Erörterung: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral. Bertolt Brecht in "Die Dreigroschenoper"
Maceath: „"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral".“
Bertolt Brecht - Die Dreigroschenoper
Argentinien – am 24. März 1976 putscht das Militär und veranlasst bald darauf hin als neuer politischer Machthaber die Verschleppung insgesamt etwa 30.000 Oppositioneller, von denen bis heute großteils jedwede Spur fehlt. Anfangs noch bestehender Widerstand der Regimegegner wurde im Keime erstickt, Menschen „verschwanden“ einfach – wurden auf das Grausamste gefoltert, umgebracht sowie vor allem ihrer Identität beraubt. Als 1983 die Diktatur gestürzt wird, fordert die junge argentinische Demokratie Gerechtigkeit, Aufklärung über Opfer plus Täter der Militär-Junta.
–Nach Jahren des Chaos unter Neofaschist Juan Domingo Perón (zu welchem er sich im Alter entwickelte) beziehungsweise dessen Ehefrau Isabelle erhofften sich viele Argentinier von der Diktatur eine souveräne Ordnungsgewalt, die wahllosen Festnahmen ihrer Mitbürger störten tatsächlich wenige.
Das augenscheinliche Ende der Militärs mit ihrem Rücktritt 1983 ist jedoch nur von kurzer Dauer. Nach lebenslangen Haftstrafen für bestimmende Kräfte drohen die einstigen Befehlsausführenden mit einem erneuten Putsch. Mit Erfolg – Präsident Raúl Alfonsín bewirkt mit einem „Befehlnotstandsgesetz“ eine Quasi-Freisprechung der Angeklagten von jeder Schuld, sie hätten nur ihre Pflicht getan. Ein „Schlusspunktgesetz“ macht weitere Strafverfahren zudem unmöglich, so dass 1990 der Freispruch des leitenden Generals Videla folgt.
Wo bleibt da die Moral?
Wo die Achtung vor dem Leben, ehren sie die Getöteten nicht? Wich sie einer Angst um Leben, Hab und Gut, gar Feigheit, hätte Argentinien stark sein können, wäre es gemeinsam gegen die Übermilitärs vorgegangen? Fragen, die anhand dieses Beispiels aus jüngerer Zeit durchaus einleitend dienen sollen, lassen sie sich doch auf so viele Etappen der Menschheitsgeschichte übertragen und besitzen daher eine nicht auszuschlagende Allgemeingültigkeit.
Tja, „wovon lebt der Mensch?“, ist es „Fressen“, ist es „Moral“ – eine der Dreigroschenoper entnommene These Bertolt Brechts, die ich im Anschluss diskutieren möchte, indem ich eigene Aussagen sowie deren Belege entwickle.
Ich bin durchaus der Ansicht, dass sich eine ungeheure Vielfalt von Belegbeispielen für den Brechtschen Vorwurf an die menschliche Natur finden lässt.
Klassischerweise ist das auch ein Punkt, den Marx-Kritiker anbringen, um die praktische Undurchführbarkeit des Kommunismus zu erläutern. China, Nordkorea sowie Kuba leben auch eher in feudalen Verhältnissen, der Kommunismus in Reinform wurde seinerzeit selbst in der Sowjetunion nicht verwirklicht. Ihm im Weg könnte unter anderem der Egoismus des Einzelnen gestanden haben, der eine Philosophie à la „Jeder nimmt sich so viel er möchte, keiner aber mehr als er braucht.“ schwer realisierbar macht. Schon im Kleinen (außer vielleicht in dem einen oder anderen Kibbuz) sind allerlei Schwierigkeiten beobachtbar, die den Entwurf der klassenlosen Gesellschaft in weite Ferne rücken lassen. Nehmen wir einmal unsere Klasse: wer macht zum Beispiel Hausaufgaben auch ohne Erwartung einer Benotung seiner Mühen, wer übernimmt ohne Sonderstatus Organisatorisches, wer „schlaucht“ sich stets auf Kosten anderer durch, nutzt deren Gutmütigkeit aus? Kaum eine Schulklasse ist ausschließlich aus Leuten zusammengesetzt, die insbesondere und unermüdlich auf das Wohl der Klasse bedacht sind, uneigennützig handeln, auch wenn sie ihre Mehrarbeit nicht sofort am Notenspiegel bestätigt sehen. Was für Schüler die Zensurenkartei ist, ist dem Arbeitenden sein Geldbeutel – wäre dort nicht mehr zu finden, obgleich man auch gründlicher, gewissenhafter, zeitlich intensiver arbeitet, würde vieles unverrichtet liegen bleiben.
„Money makes the world go round“ oder „Geld ist nicht alles im Leben, macht aber vieles einfacher“ sind das Mantra der modernen, industrialisierten Welt. Ohne können wir nicht, der Lebensunterhalt will bezahlt sein und dies von heute auf morgen abzuschaffen wäre in Staaten mit einem derart hohen Lebensstandard wie Deutschland schwer möglich. Doch gibt es sie noch, Naturvölker wie etwa auf einer Inselgruppe vor Indien, die sich bis dato im Verzicht auf geprägte Münzen oder bedrucktes Papier üben, aber ja nicht völlig unbegütert leben. „Fressen“ muss der Mensch, die Frage ist vielleicht viel eher in wie weit er bereit ist, aus moralischen Gründen „abzugeben“?
Sind wir ehrlich, müssen viele durchaus zugeben, dass es mit ihrer Teilnahme an Spendeaktionen nicht allzu weit her ist. Beneidenswert sind diejenigen, die sich nach ihrer Anwesenheit beim P-8-Konzert wahrhaftig einreden können, sie wären jetzt in die Liga der Entwicklungshelfer aufgestiegen. Ich packe jedes Jahr von meinem gesparten Taschengeld einen Weihnachten-im-Schuhkarton-Aktionskarton. Ein Anfang, genau wie die überraschend hohe Spendenbereitschaft der Deutschen zugunsten der Tsunami-Opfer, doch keine dauerhafte Lösung der sozialen Ungleichheit. Zum Teilen sind wir nämlich nur bereit, sind zunächst einmal unsere angeblichen Bedürfnisse, von denen sich einige nicht einmal als solche dritten Grades bezeichnen lassen, befriedigt: das neue Auto abbezahlt, der Plasmabildschirm noch, Ballettunterricht fürs Töchterchen und der bald anstehende Sommerurlaub. Das muss schon sein, gehört dazu, weshalb man sich an dieser Stelle fragen könnte, ob das alles nötig und in seiner Anschaffung vor mittellosen Menschen gerechtfertigt ist.
Zum Verzicht aus moralischen Gründen sind die Wenigsten bereit, Afrika bekommt nur den Geldüberhang. Wie also wäre es, würde ganz Deutschland Luxusgütern, zu denen Auto, Fernseher und Co. definitiv gehören, entsagen und im Anschluss das nun verfügbare Geld zur Entwicklungshilfe in Drittweltländern verwenden? Ein unausgereifter, vielleicht sogar utopischer Vorschlag, aber unser inneres Aufbegehren sobald wir derartige Verzichtsangebote vernehmen, zeigt doch nur allzu deutlich, dass im wörtlichen wie übertragenen Sinne die eigene Bedürfnisbefriedigung häufig vor Moral gestellt wird.
Auch mit der europäischen Geschichte ließe sich für Brecht argumentieren. Zieht man dafür Marx Theorie der Abfolge von Gesellschaften heran, so findet man darin die Ansicht, dass sich in allen Ordnungen, angefangen bei der Sklavenhalterordnung, in der Realität mit dem Kapitalismus (beziehungsweise zeitweise tatsächlich Imperialismus) endend, zwei Prinzipien antagonistisch gegenüberstehen: die Klasse der Ausgebeuteten und die der Herrschenden.
Der Feudalismus des Mittelalters hat maßgeblich durch die Ausbeutung der Hufebauern, etc. bestand gehabt, und das immerhin über 1000 Jahre lang. Lehnsherren konnten sich Abgaben unerhörter Dimension, Frondienste und dergleichen von ihren Untergebenen auf Lebenszeit erbeten, dafür erhielt ein Vasall den Schwur zum Schutz, zur Sicherung des Daseins.
Kapitalismus ist bis heute ein Werk der Arbeitsteilung einerseits jener, die Produktionsmittel besitzen sowie andererseits derer, die doppelt freie Lohnarbeit verrichten – das heißt sie sind rechtlich zwar freie, mündige Bürger, dem Grundherren nicht mehr verpflichtet, aber auch frei von Kapital oder Ähnlichem. Insbesondere zu Zeiten der industriellen Revolution lag jedoch weniger eine gemeinschaftliche Zusammenarbeit von Arbeitgeber plus Arbeitnehmer als eine regelrechte Ausnahme der schuftenden Arbeiter vor.
Die Herausbildung eines Fabrikwesens im Deutschen Reich wie es eines in Frankreich schon seit Colberts Merkantilismus gab, führte unweigerlich zum Entstehen zweier Gesellschaftsklassen: die besitzende Bourgeosie versus arbeitendes Proletariat. Mit der Industrialisierung kam jedoch auch die „Spinning Jenny“ aus England, ein mechanisch betriebener Webstuhl, der den Verzicht auf eine Vielzahl von Arbeitskräften sowie eine enorm gesteigerte Produktion ermöglichte. Was dann geschah, ist hinreichend bekannt. Deutschland geriet in eine Absatzkrise, ersetzte die Technik den Arbeiter hierzulande nur langsam, und erreichte England eine kaum anfechtbare Monopolstellung in der Webindustrie. Die Briten produzierten einfach wesentlich effizienter, schneller, billiger. Leidtragende waren die ohnehin schon sehr schlecht bezahlten Weber, insbesondere in der Region Schlesien, weshalb sie nach ausbleibender Bezahlung und im Bewusstsein des drohenden Hungertodes alsbald den Aufstand probten, den Gutsherren das Mobiliar zerschlugen, was wiederum zur gewaltsamen Niederschlagung der Aufständischen durch das Militär führte.
Erneut also die Frage, wo in der Geschichte die Moral hinverschwunden ist. Auf Seiten derjenigen, die sich stets nur zu bereichern wussten, wird sie kaum zu finden sein. Denn wie im Beispiel der unserer Hilfe bedürftigen Entwicklungsländer sollte man überlegen, wieso scheinbar nie die Gleichverteilung aller Güter erreicht wurde, wird, werden wird. Warum hätte Ludwig XIV. auch auf das Versailler Schloss mit allen seinen Vergnügungen verzichten sollen, nur um damit einen weiten Teil der Bevölkerung dauerhaft ernähren zu können.
Betrachtet man Vergangenheit und Gegenwart, dann scheint es in der Natur der Dinge beziehungsweise des Menschen zu liegen, dass eine vollkommene soziale Balance nicht erreichbar ist. Zwar lebt Deutschland in ausgesprochenem Wohlstand, das Verhältnis der Arbeitgeber zu ihren Angestellten ist weit menschlicher, als zu „Spinning Jenny’s“ Zeiten, doch ist die interkontinentale Spanne zwischen arm und reich unübersehbar.
Maceath Worte unterstellen dem Menschen bereits durch die Wortwahl spürbare animalische Instinkte. Ein homo sapiens sapiens sollte artgemäß essen, nicht fressen und doch eigentlich derartige Triebe im Zaume halten können.
Die Beherrschbarkeit des menschlichen Körpers sowie seiner unmittelbaren Bedürfnisse ist indirekt auch Ausdruck der besonderen Fähigkeiten, die ein Mensch seiner Hochentwicklung des Gehirns, Nervensystems zuzuschreiben hat: Freiheit, Mündigkeit, Willenskraft, die so manche anatomische Mechanik überlisten kann.
Vernunft ist zwar ein großes Wort, ebenso wie das Versprechen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, doch zeigen uns die Medien tagtäglich wie viel „Tier“ und damit verbundene Triebhaftigkeit sich dennoch im Menschen verbirgt, derer mächtig zu werden, manch einer auch nur geringfügige Anstrengungen unternimmt.
Manchmal enden eben solche Verhaltensweisen wider der menschlichen Natur (oder vielleicht eben doch entsprechend jener) in Straftaten, wozu Diebstahl, Raub sowie Sexualdelikte oder Kapitalverbrechen wie Mord und Totschlag unweigerlich zählen.
Allen moralischen Normen entgegen hat ein Dieb sich am Eigentum anderer zu bereichern versucht – Wölfe stehlen einander auch die Beute, frisst der betreffende „Eigentümer“ beispielsweise vor dem Alphatier. Tierische Organismen konkurrieren in der Natur vor allem um drei Dinge: Beute, Lebensraum, Geschlechtspartner. Ein „Beuteschema“, dass sich auch auf den Menschen übertragen lässt. Das tierischste der genannten konkurrenzverursachenden Objekte ist vermutlich jedoch die Nahrung, schließlich ist jene für das Überleben auch von größter Bedeutung. Hierin zeigt sich also, inwiefern Brecht den Menschen auf animalische Triebe reduziert.
Eben jene sind außerdem Basis der sieben Todsünden, zu denen auch Habgier gehört. Ein interessantes Thema, überlegt man sich, ob befriedigter „Hunger“ automatisch auch Moral bedeutet, was meinerseits relativ entschieden mit „nein“ beantwortet werden könnte. „Ein Wunsch, sobald er ist erfüllt, kriegt augenblicklich Junge.“ (Wilhelm Busch) Belege dafür liefert uns der ein oder andere Korruptionsskandal: ob Politiker oder Manager, sehr gut verdienen sie sicherlich alle, ja auch nicht zu Unrecht, betrachtet man ihr Arbeitspensum sowie ihre Verantwortung, doch können die Chef-Etagen von Siemens, Mannesmann und anderen sich nur schwer zufrieden geben, bereichern sich auf Kosten anderer, prellen den Staat um schöne Summe und geben dem Auto-Normalverbraucher nach einem lächerlichen Gerichtsurteil mit verschwindend geringem Bußgeld das Gefühl ein Mensch zweiter Klasse zu sein.
Im kleineren Rahmen kann man die Neigung zur stetigen Bereicherung auch bei einer einkaufenden Frau beobachten. Rein theoretisch ist es zur Überlebenssicherung nicht notwendig mehrere Paar Schuhe zu besitzen und sich stets modisch anzuziehen. Ich persönlich würde mit sehr viel weniger T-shirts, Tops, Röcken, Hosen, Jacken, Schuhen auskommen, als ich derzeit habe, was mich dennoch nicht am nächsten H&M-Besuch hindert.
Meine Contra-Argumente fallen sehr viel spärlicher als meine Thesenbelege aus, was ja schon meine Tendenz wiederspiegelt.
Gegen alle Verallgemeinerungen von Menschheitsgeschichte, Gegenwart sowie animalischen Trieben spricht zunächst einmal die Masse derer, die wohltätig und gemeinnützig handeln. Das Kinderhilfswerk Unicef, World Vision, Brot für die Welt, die Diakonie, Caritas, das Technische Hilfswerk – all das sind global agierende Hilfsorganisationen, die mithilfe von Spendengeldern ihr Möglichstes tun, diese Welt moralisch etwas vertretbarer zu gestalten. Das geschieht zudem meist ohne Verdienst für alle Beteiligten, insbesondere christliche Einrichtungen arbeiten nach dem Kostendeckungsprinzip. Dazu kommt die Vielzahl ehrenamtlicher Helfer, die sich in Krisen- oder Katastrophengebieten engagieren und nicht selten in echte Gefahr begeben, was die letzten Entführungen im Irak nur bestätigen. Auch Betreuer langfristiger Projekte in Entwicklungsländern werden sicherlich gerade so viel verdienen, um das Nötigste zu sichern. Obwohl ich mich zunächst gegen Lobeshymnen auf die deutsche Spendenbereitschaft aussprach, muss ich natürlich eingestehen, dass es glücklicherweise immer noch Menschen gibt, die zugunsten von Hilfsaktionen auf einen hohen Lebensstandard verzichten und derartige Projekte finanziell unterstützen. Ärzte ohne Grenzen, die obwohl ihnen vielleicht auch eine hochbezahlte Position in einer deutschen Klinik zustehen würde, ohne Honorar in Gebieten ohne gesicherte medizinische Versorgung diagnostizieren, heilen oder Patienten im medizintechnisch sehr gut ausgestatteten Deutschland unentgeltlich operieren, werden ihrem hypokratischen Eid mehr als gerecht.
Natürlich ist auch hervorzuheben, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung den Verstand, Ratio und Objektivität, glücklicherweise auch über den Instinkt stellt. Die Quote weniger hart bestrafter Verbrechen ist im Gegensatz zu jener der Kapitalverbrechen in den letzten Jahren in Deutschland zurückgegangen. Nun wird in der Schule glücklicherweise auch stetig versucht, uns auf dem Pfad der Tugend zu halten, uns zu lehren, dass wir all unseres Wissens sowie unserer emotionalen Intelligenz Gebrauch machen sollen und die aufkommenden Gefühle häufig zurück halten müssen, fällt es auch insbesondere in anbetracht eines leeren Magens manchmal äußerst schwer. Dennoch würde wohl kaum ein Mensch auf die Idee kommen, einem Essenden seine Wegzehrung zu entwenden, nur um selbst zu speisen. Auch das System der Bezahlung für Waren sowie Güter aller Art hat sich in nahezu jeder Zivilisation eingebürgert und wird selten hinterfragt, womit sich der Mensch sehr deutlich vom Tier abgrenzt.
Ich bin seit einiger Zeit der Meinung, dass der Egoismus des Einzelnen eine vollkommen gerechte Welt immer eine Utopie bleiben lassen wird. Um daran noch festhalten zu können, müsste man mit verbundenen Augen durch die Welt gehen, seine Umwelt, Medien sowie Mitmenschen völlig ignorieren. Denn überall findet man bestätigt, was ich mithilfe meiner Argumentation bereits herauszustellen versucht habe. (Von mir selbst ausgehend würde ich mich zwar nicht als selbstlos, aber dennoch arbeitswillig und zumindest nicht schmarotzend bezeichnen.) Auch in der Literatur stößt man überall auf Beispiele (bevorzugt männlichen Geschlechts), die eben Brechts treffenden Satz beispielgebend illustrieren: mit Ausnahme zweier sympathischer Herren sind sämtliche anderen Auftretenden in John Irvings „Witwe für ein Jahr“ von ungeheurer Boshaftigkeit, was das Ausnutzen schöner Frauen betrifft, gleiches gilt für einige berühmte Persönlichkeiten in Klaus Manns „Symphonie Pathétique“ und nicht zuletzt all jene Gestalten, denen Büchners „Woyzeck“ zum Opfer fällt. Womit ich nun beim letzten Teil meiner Arbeit angelangt wäre. Ich möchte versuchen, meine Ansichten auf den Dramentext zu beziehen.
Dazu möchte ich ein Zitat heranziehen, dass uns für die einführende Lektüreleistungskontrolle zur Verfügung stand: „Dem „Woyzeck“ liegt […] ein System zugrunde: das System der Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung. […]“ (Alfons Glück) Drei Wörter, die falls angewandt moralisch absolut verwerflich sind und deshalb gut zusammenfassen, was ich im Folgenden zu erklären versuche. Woyzeck wächst in einem Milieu der Armut, des Hungerns, Bangens, der Hilflosigkeit auf, seine soziale Lage wird vor allem von drei Faktoren bestimmt: die Verrichtung niederer Arbeiten für den Hauptmann, seinen Vorgesetzten, die bereits seit 3 Monaten durchstandene Erbsendiät auf Anordnung des Doktors zum Mehrverdienst von 3 Groschen und der Überbringung seines Einkommens um Frau (so Woyzeck) und Kind ernähren zu können. Begonnen beim Hauptmann lässt sich durchaus feststellen, dass er einer jener Charaktere ist, die sich stets auf Kosten anderer einen Spaß zu machen suchen, bereichern. Zu Woyzeck spricht er als Befehlserteiler zu einem Ausführenden, was mithilfe der häufigen Anrede in der dritten Person („Was will er denn mit der ungeheuren Zeit all anfangen?“) in seiner absoluten Hierarchie noch verstärkt wirkt. Als Hauptmann führt er ein Sonntagsleben, Langeweile galt als schlimmste Offizierskrankheit, weshalb also auch klar ist, welchen geringen Nutzen er für die Gesellschaft innehat.
Doch kommen zur Ausbeutung Woyzecks für minderwertige Dienstleistungen Beleidigungen, zum Beispiel aufgrund dessen fehlenden Intellekts hinzu („Oh, er ist dumm, ganz abscheulich dumm.“). Paradoxerweise wagt gerade jener Ausbeutende seinem Untergebenen die Moral, gar Tugend abzusprechen („Woyzeck, Er hat keine Moral!“ , „Woyzeck, er hat keine Tugend!“) – mit der bloßen Begründung der Vaterschaft eines unehelichen Kindes. Klar wird also, wie verschieden die Moralvorstellungen jener Zeit waren. Neben einem sicheren Einkommen („Fressen“), dass ihn zum Demütigen verführt, hält er sehr konservativ an überlebten Institutionen fest: die Ehe als Zentrum menschlichen Zusammenlebens, die Kirche, sowie Militär, Staat und Obrigkeit. Er lebt eine essentielle Tugend des Bürgertums – den Verzicht auf Triebhaftigkeit, jedoch nur sexueller Natur. Für Vernunft und Menschlichkeit sprechen seine erniedrigenden Worte wohl kaum, was auch ihn der Tierwelt ein Stück weit näher bringt. Den Gipfel seiner Doppelmoral sowie Arroganz findet man in dessen Ansicht arbeitende Menschen seien untugendhaft (Faulheit ist Sünde!), was seinem Scheitern am metaphysischen Problem des „wiederkehrenden Immergleichen“, der Ewigkeit, zuzuschreiben ist. Dass der Hauptmann Sünden nur in geringem Maße und ausschließlich bei anderen zu finden weiß passt sehr gut zu seiner Nichtkenntnis von Bibelzitaten, obgleich er ja die kirchlichen Institutionen ganzheitlich für sich beansprucht.
Ähnlichen Verspottungen und Angriffen auf seine Person ist Woyzeck bei einem vollkommen dem Forschergeist verschriebenen Doktoren ausgesetzt. Jener degradiert ihn zum „interessanten Kasus“ plus achtet Woyzeck als Individuum kaum, ist nur an menschlichen Körpermechanismen interessiert. Für den Doktoren ist das notwendige „Fressen“ in den Lorbeeren für seine Forschungsergebnisse manifestiert, für die er tatsächlich auf Leben zu verzichten bereit ist. Die unausgewogene Erbsendiät, auf die der Arzt Woyzeck setzt, ist ein medizinisches Experiment mit dem Ziel einer Revolution der Wissenschaft – für Moral ist dort kein Platz, wohl aber für Moralpredigten gemäß idealistischer Werte, gepaart mit Rationalismus: der animalische Trieb im Menschen wurde durch den Doktoren höchstselbst widerlegt – „Woyzeck, der Mensch ist frei, in dem Menschen verklärt sich die Individualität zur Freiheit!“. Mit diesen Worten widerspräche der Mediziner ja eigentlich Brechts These, was er sicherlich auch für sich beanspruchen würde. Der springende Punkt ist aber, dass auch hier Doppelmoral eine nicht zu verachtende Rolle spielt. Denn von Freiheit kann in Woyzecks Falle kaum gesprochen werden. So hätte er natürlich die Entscheidungsgewalt sich einer solchen Zwangsernährung zu widersetzen, was ihn aber in noch ausgeprägtere finanzielle Engpässe triebe, hat er zudem nur Unterwürfigkeit gelernt. Des Weiteren ist es moralisch unmöglich vertretbar als studierter Arzt einen Gesunden erkranken zu lassen, Halluzinationen oder auftretende Anzeichen für Geistesgestörtheit nicht als Warnsignal des Körpers sondern als Ruf der Wissenschaft zu verstehen. Und ist in des Doktors Hang zum „Gott spielen“ nicht eine ungeheure Boshaftigkeit und Verachtung alles menschlichen Lebens zu finden? („Behüte, wer wird sich denn über einen Menschen ärgern, ein’ Menschen!“) Sein Mangel an Empathie führt ihn bis zum direkten Vergleich Woyzecks mit einem Tier („Apropos, Woyzeck, beweg den Herren doch einmal die Ohren! […] zwei Muskeln sind bei ihm tätig.“).
Handeln denn Marie und Woyzeck moralisch, sind sie nur Opfer einer unmoralischen Gesellschaft?
Auch Marie beutet ihren Franz aus, lässt sich von dessen geringen Einkünften, die er durch die unmenschliche Erbsendiät erweitert, aushalten. Durch das Intermezzo mit einem Tambourmajor wird ihr Egoismus ungemein deutlich. Kann einer allein ihr nicht gefallen, bieten, was ihr beliebt, so muss eben noch ein Nächster herhalten.
„Fressen“ kommt vermutlich in jedem Armenviertel der Welt vor Moral, denn wer verhungert, braucht sich der Moral nicht mehr bedienen. So ist auch Marie vor allem an materiellen Dingen interessiert (Schmuck!) und vergisst darüber manchen guten Vorsatz. Woyzeck hingegen handelt bis zu dem Schlusspunkt, an welchem er Marie tötet, durchweg als Untergebener, aber moralisch vertretbar. Brav trägt er sein Geld nach Hause und findet eben noch Zeit mit dem Hauptmann intensiv über Tugendhaftigkeit zu diskutieren. Woyzeck meint, Moral wäre vom Geldbeutel abhängige Luxusware und da er das kirchliche Heilversprechen ohnehin in Frage stellt, indem er gedanklich auch das Paradies in Stände gliedert, scheint er zumindest an christliche Moralvorstellungen nicht zu glauben. So kann „Fressen“ problemlos die Moral verdrängen, was er als einziger tatsächlich ausspricht. Die drei anderen Handelnden verstecken sich hinter leeren Worten, Doppelzüngigkeit und im Falle des Hauptmannes / Doktors hinter ihrer gesellschaftlichen Position.
Der Mord an Marie ist natürlich nicht zu rechtfertigen, bis zu einem gewissen Grad rein menschlich aber nachvollziehbar. Woyzeck handelte in diesem Moment nicht als Täter, sondern als Opfer einer Reihe von vielseitigen Demütigungen, hat er doch anders keinen Ausweg aus seinem gesellschaftlichen und nun auch familiären Elend gesehen. Das Mädchen war ihm der einzige Halt in einer Welt, die er stets gebückt durchwandern musste. Seine Hirngespinste, Paranoia hat ihn zudem halb in den Wahnsinn getrieben – so spricht er in der Tötungsszene wie im Blutrausch.
Meiner Ansicht nach ist Woyzeck einem Kapitalverbrechen zum Trotz die am moralischsten handelnde Figur des Dramas, gibt er seinen Verzicht auf (christliche) Moral schließlich implizit zu.
Abschließend kann ich sagen, dass die Auseinandersetzung mit einer derart allgemeingültigen These eigentlich einen Aufwand von Wochen erfordern könnte. Im Falle einer wirklich gründlichen Arbeit könnte man nahezu jedes gesellschaftliche, politische, altgeschichtliche oder alltägliche Ereignis im Detail beleuchten, eine umfangreiche Stoffsammlung anlegen, Experten wie Soziologen zu Rate ziehen oder Beispiele in der Literatur suchen. Deshalb habe ich versucht relativ allgemein zu diskutieren, damit die Argumente eine Übertragbarkeit aufweisen, die jene ja nur bekräftigt. Von fächerübergreifendem Unterricht beeinflusst versucht man auch automatisch Informationen anderer Fachbereiche einfließen zu lassen, was den Aufsatz zu einem Blätterberg von kaum überschaubarer Größe werden ließe.
Dennoch habe ich mich bemüht Ansätze zur Diskussion zu bieten, die wir ja im unterrichtlichen Gespräch ausweiten könnten?
Inhalt
Aufsatz zur Erörterung des Ausspruchs: "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.", Bertolt Brechts "Dreigroschenoper", Einleitung, Erörterung, eigene Positionierung sowie Übertragung und Diskussion der These bezüglich Georg Büchners "Woyzeck", fortlaufend geschrieben, sehr ausführlich! (3398 Wörter)
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Es handelt sich hier um einen fremden, nutzergenerierten Inhalt für den keine Haftung übernommen wird.
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