Brief 16 Lateinischer Originaltext (als HTML)
Seneca - Brief 16 (deutsch)
- Briefe an Lucilius über Ethik (2. Buch) -
(1) Es leuchtet Dir ein, lieber Lucilius - ich weiß es -, dass niemand glücklich leben kann, ja nicht einmal erträglich, ohne die Philosophie', und dass man ein glückliches Leben nur durch vollkommene Weisheit erlangen kann, ein erträgliches jedoch auch schon durch anfängliche Bemühungen um sie. Doch das, was einleuchtend ist, muss gefestigt und durch tägliche Denkarbeit vertieft werden: Mehr Anstrengung bedarf es, die Vorsätze einzuhalten, als sich das sittlich Gute vorzunehmen. Ausdauer muss man haben und durch unablässiges Bemühen zusätzliche Kraft gewinnen, bis eine gute Sinnesart werde, was jetzt noch guter Wille ist. (2) Daher sind Dir bei mir nicht noch mehr Worte oder eine so lange Beteuerung vonnöten; ich erkenne, dass Du schon große Fortschritte gemacht hast'. Woher das kommt, was Du schreibst, weiß ich; es ist keine phrasenhafte Schönfärberei. Dennoch will ich aussprechen, was ich empfinde: Schon hege ich für Dich Hoffnung, aber noch keine Zuversicht. Ich möchte, dass Du es ebenso machst: Du hast keinen Anlass, Dir vorschnell und leichtfertig zu vertrauen. Prüfe Dich, erforsche Dich auf mannigfache Art und beobachte Dich; schau vor allem darauf, ob Du nur in der Philosophie oder im Leben selbst Fortschritte gemacht hast. (3) Nicht ist die Philosophie eine Allerweltskunst noch für die Zurschaustellung geeignet;' nicht auf Worten beruht sie, sondern auf Handlungen.' Und nicht wird sie dazu angewandt, damit bei einer angenehmen Unterhaltung der Tag vergehe, damit dem Müßiggang der Überdruss genommen werde: Sie formt und prägt den Geist, ordnet das Leben, regelt die Handlungen, zeigt, was man tun und lassen muss, sitzt am Steuerruder, und durch die Gefahren der Fluten lenkt sie den Kurs. Ohne sie kann niemand furchtlos leben, niemand unbesorgt. Unzählige Dinge passieren zu jeder einzelnen Stunde, die Rat erfordern, den man sich bei ihr holen muss. (4) Man wird einwenden. "Was nützt mir die Philosophie, wenn es ein Schicksal gibt, was nützt sie, wenn ein Gott der Lenker ist,' was nützt sie, wenn der Zufall herrscht? Denn das Gewisse lässt sich nicht ändern, und keine Vorkehrungen können getroffen werden gegen das Ungewisse; sondern entweder ist Gott meiner Entscheidung zuvorgekommen und hat verfügt, was ich tun soll, oder der Zufall gewährt meiner Entscheidung keinen Spielraum. " (5) Was auch von alledem zutrifft, Lucilius, oder wenn alles zutrifft - philosophieren muss man; sei es, dass uns an ein unerbittliches Gesetz das Schicksal fesselt, sei es, dass Gott als Gebieter über das Universum alles wohl geordnet hat, sei es, dass der Zufall die menschlichen Angelegenheiten willkürlich antreibt und durcheinanderwirbelt, die Philosophie muss unser Schutz sein. Diese wird uns ermuntern, Gott willig zu gehorchen, dem Geschick unbeugsam; sie wird Dich lehren, Gott zu folgen, den Zufall zu ertragen.' (6) Doch nicht wollen wir jetzt zur Erörterung der Frage übergehen, was in unserer Macht liegt, wenn es eine (göttliche) Vorsehung in der (Welt)regierung gibt, oder wenn eine Kette von Schicksalsfügungen uns an sie gefesselt mitzieht, oder wenn unerwartete Zwischenfälle vorherrschen. Zu jenem Punkt kehre ich nun zurück, daß ich Dich ermahne und auffordere, nicht zu dulden, dass die Begeisterung Deines Herzens nachlasse und sich abkühle. Bewahre und stärke sie, damit eine Geisteshaltung werde, was jetzt nur Begeisterung ist. (7) Schon von Anfang an wirst Du Dich, wenn ich Dich gut kenne, nach einem kleinen Mitbringsel dieses Briefes umgesehen haben: Durchsuche ihn, und Du wirst es finden. Es gibt keinen Anlass für Dich, mich zu bewundern: noch immer gehe ich mit fremdem Gut freigebig um. Warum aber sage ich fremdes Gut Alles, was von irgend jemandem treffend gesagt worden ist, gehört mir. Auch dies ist wieder ein Ausspruch Epikurs: "Wenn Du naturgemäß lebst, wirst Du niemals arm sein; wenn nach landläufigen Meinungen, wirst Du niemals reich sein. "' (8) Wenig verlangt die Natur, die landläufige Meinung unermesslich viel. Magst Du mit allem überhäuft werden, was viele Begüterte besessen hatten; mag Dir der Zufall zu einem die Grenzen von Privatbesitz weit übersteigenden Vermögen verhelfen, mag er Dich mit Gold bedecken, in Purpur kleiden, mag er Dich zu einem solchen Luxus und Reichtum bringen, dass Du die Erde unter Marmorplatten verbirgst; es sei Dir gestattet, Schätze nicht nur zu besitzen, sondern auch mit Füßen zu treten; mögen hinzukommen Statuen und Gemälde und alles, was irgendeine Kunst zur Prachtentfaltung ausgearbeitet hat: Größeres zu begehren wirst Du davon lernen. (9) Natürliche Wünsche sind begrenzt; was einer Wahnvorstellung entspringt, weiß nicht, wo es enden soll. Dem Irrtum nämlich sind keine Grenzen gesetzt.' Der Wanderer auf einem Wege hat ein Ziel, das Umherirren ist unbegrenzt. Ziehe Dich daher von Belanglosigkeiten zurück, und wenn Du wissen willst, ob dem, was Du anstrebst, ein natürliches oder blindes Verlangen zugrunde liegt, überlege, ob es irgendwo haltmachen kann; wenn Du weit vorangekommen bist und immer noch ein Rest in weiter Ferne vor Dir bleibt, so wisse, dass es nicht naturgemäß ist. Leb wohl!
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Seneca - Briefe an Lucilius über Ethik - Brief 16 in deutscher Übersetzung (als HTML-Datei) (806 Wörter)
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