Steenfatt, Margret - "Im Spiegel"
15.10.04
Interpretation der Kurzgeschichte ‚Im Spiegel’ von Margret Steenfatt
Die Kurzgeschichte ‚Im Spiegel’ von Margret Steenfatt zeigt den emotionalen Ausbruch eines Jugendlichen, verursacht durch ein Elternhaus voller Vorurteile. Berichtet wird von einem Jungen namens Achim, der nach einer Auseinandersetzung mit seinen Eltern vor seinem Spiegel sitzt und sein blasses, ausdrucksloses Spiegelbild betrachtet. Er malt es mit Farbe nach und schließlich zerschlägt er, nachdem er begriffen hat, dass das Bild seine jahrelang aufgezwungene ‚Maske’ darstellt, den Spiegel.
Der Text wirkt auf mich zunächst Mitleid erregend, weil er Achim als einen unverstandenen, einsamen Jungen vorstellt, der anscheinend, aufgegeben von seinen Eltern, keinen Sinn mehr in seinem bisherigen Leben sieht (Z.10-15) und sich in einer Trotzreaktion (Schlag in den Spiegel) von dem Elternhaus ‚lossagt’.
Steenfatt lässt in ihrer Kurzgeschichte einen personalen Er-Erzähler zu Wort kommen (vgl. Z.4-6, Z.11-15, Z.21-23, Z.28-33, Z.36, Z.54, Z.72f.), der allerdings über lange Passagen die Gedankenwelt Achims nicht wieder gibt. Somit sind Achims Handlungen für den Leser viel effektvoller, als wenn der Autor versucht hätte, z.B. das Zerschlagen des Spiegels durch einen Monolog oder erlebte Rede auszuschmücken. Der Erzähler gibt zwar durchaus die Innensicht Achims wieder (z.B. Z.10-15), bewahrt aber trotzdem eine gewisse Distanz zur
Hauptperson (Achim), indem er kommentarlos seine Handlungen und Gedanken
schildert (Z.63-70).
Die Hauptfigur der Kurzgeschichte ist Achim, ein Jugendlicher, der sich vom Leben (Z.15) und der immerwährenden Routine (Z.29) enttäuscht in sein Zimmer verkriecht (Z.6) und motivationslos sein Leben vorbeifließen lässt: „Fünf nach eins. Wieder mal zu spät.“ (Z.10f.).
Die Kurzgeschichte gibt eine linear verlaufende Handlung wieder. Es gibt weder Parallelhandlungen noch Vorausdeutungen oder Rückblicke. So empfindet der Leser jede neue Reaktion Achims als ungeahnt und überraschend und ‚lebt’ sozusagen mit ihm.
Zeitdeckend beschreibt der Erzähler, wie Achim nachmittags um 13.05 Uhr endlich – aber dennoch antriebslos – aus dem Bett steigt (Z.10-12). Nach einem ersten prüfenden Blick in den Spiegel, bei dem er sich zwar als blass, aber dennoch als relativ normal
wahrnimmt (Z.22), wendet er sich zunächst wieder ab (Z.27), ist jedoch nun bereit, sich nicht von seinen Eltern und der Umwelt abschreiben („verplant“ (Z.24)) zu lassen, sondern über sein eigenes ‚Ich’ nachzudenken (Z.25). Vor allem der zweite Blick in den Spiegel lässt Achim realisieren, was er selbst ‚widerspiegelt’: Er ist „weiß“ (Z.12), glatt und kalt (Z.36), grau, glanzlos, blass (Z.22) und „farblos“ (Z.60). Er scheint absolute Leere und Trostlosigkeit zu empfinden. Plötzlich entwickelt Achim die Besessenheit (Z.40, Z.35), dieses Bild der Leere darzustellen und spürt erst dann eine Art der Befriedigung, als er seinen Finger in die „weiche, ölige Masse“ (Z.48) tauchen kann, um sein Gesicht nachzumalen. Achim verwendet nur die Farben weiß, schwarz und blau (Z.53f.) – kalte Farben, mit denen er seiner „Malerei“ (Z.53) vielleicht mehr Kontrast und Ausdrucksstärke, jedoch keine liebenswerten Züge verleihen will. Nach Vollendung des Werkes erkennt Achim, dass seine „Spiegelmaske“ (Z.62) nicht sein ‚wahres Ich’, das er haben möchte, widerspiegelt, sondern die aufgezwungene Maske seiner Eltern. Dahinter verbirgt sich aber noch ein anderes Gesicht, sein wirkliches Gesicht, das zuvor im Verborgenen gelegen hat: „Eine Weile verharrte er vor dem bunten Gesicht, dann rückte er ein Stück zur Seite, und wie ein Spuk tauchte sein farbloses Gesicht im Spiegel wieder auf, daneben eine aufgemalte Spiegelmaske.“ (Z.58-62). An dieser Stelle entlädt sich die aufgebaute Spannung, da er – wahrscheinlich von starken Gefühlen erfüllt – in einer Art Verzweiflungshandlung den Spiegel und somit seine Spiegelmaske zerschlägt (Z.63f.). Verletzt von den Scherben leckt Achim sein Blut von der Hand und verschmiert so sein „farbloses“ (Z.60) Gesicht mit der warmen Farbe Rot (Z.70). Der Erzähler kommentiert diesen Punkt nicht weiter, doch es zeigt, dass auch Achims ‚wahres Ich’ Farbe besitzt und ‚lebt’. Interpretierend könnte man sagen, dass er hinaus will aus dem vorurteilsgeprägten Denken der Eltern, dass er dieses kalte „Nichts“ (Z.1-4) zerschlagen will, um seine eigene Wärme (vgl. Z.67) zu spüren. Erst dann kann er in seine Welt, zu seinen Freunden (Z.73) aufbrechen und die alten, gehassten Scherben seiner kalten, schwarz-weißen Maske zurück lassen.
Durch die kommentar- und wertungslose Wiedergabe Achims Handlungen und Gedanken entsteht für den Leser ein starkes Spannungsverhältnis zwischen dem nicht ausgeführten inneren Konflikt Achims und seinen Reaktionen.
Auch heutzutage werden Menschen in kulturelle, charakterliche und soziale Schichten gesteckt, aus denen sie nur schwer ausbrechen können. Insofern kann man den Text meines Erachtens für das gegenwärtige Leben übertragen und anwenden.
Alexandra Görl
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Interpretation einer wirklich schwierigen Kurzgeschichte: "Im Spiegel" von Margret Steenfatt. (816 Wörter)
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