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Biographie

Alles zu Demokratie und andere Staats- und Regierungsformen

Klassische Staatsdenker


Jean-Jaques Rousseau
Moralphilosoph und Komponist
* 28.7.1712 in Genf + 2.7.1778 Ermenonville/Paris
Der aus hugenottischer Familie stammende R. hatte eine freudlose Kindheit. Er verließ 15jährig seinen strengen Lehrherren, um bettelnd und stehlend durchs Land zu ziehen. In Savoyen fand er bei einer mütterlichen Freundin Verständnis und Fürsorge. In Turin besuchte er zeitweilig ein Heim für Konvertiten, wo er zum Katholizismus übertrat. Danach folgten Jahre fruchtbarer Selbststudiums (bes. Philosophie, Musik).
1742 übersiedelte R. nach Paris, wo er Beziehungen zu Diderot und den "Enzyklopädisten" (=Mitarbeiter an der von Diderot und d'Alambert herausgegebenen "Encyclopédie" (1751-80), dem maßgebenden Werk der französischen Aufklärung) aufnahm.
Angesichts der humanistischen, reformpädagogischen Grundsätze R. ist es verwunderlich, daß er alle seine fünf Kinder aus einer Liebesbeziehung zu einer Dienstmagd, die er 26 Jahre nach dem Kennenlernen endgültig heiratete, einem Findelhaus übergibt.
Ab 1750 erscheinen R. wichtigsten Abhandlungen. Der Drang zurück zur Natur spielt bei ihm eine bedeutende Rolle.

Der Mensch im Naturzustand
Im Gegensatz zu Hobbes, der das Individuum als gefährdetes und egoistisches Wesen betrachtet, ist der Mensch bei Rousseau im Naturzustand vollkommen. Er lebt als starker Einzelgänger ganz in der natürlichen Ordnung und kann sich auf seine Gefühle verlassen, z.B. Mitleid. Die daraus entstehenden primitiven gesellschaftlichen Ordnungen verletzen nicht die bestehende Gleichheit und Freiheit.
Sittenverfall durch Fortschritt
Die Einführung der Arbeitsteilung und des Privateigentums treibt die Menschen allerdings in den Konkurrenzkampf, so daß die von Rousseau als positiv bewertete Selbstliebe (`amour de soi') in die Selbstsucht (`amour propre') umschlägt. Die fortschreitende Entwicklung von Sprache, Wissenschaft und Kunst beschleunigt diesen Prozeß der Dekadenz und verschärft die Kluft zwischen arm und reich. Vernunft und Wissenschaft schwächen das natürliche Gefühl für die Sitten; Luxus verweichlicht die Menschen, die Manieren machen sie unredlich.

`Émile' (1762)
In `Émile' beschreibt Rousseau sein Erziehungsideal, das v.a. verhindern soll, das das Kind unter den schlechten Einfluß der Gesellschaft gerät. Der Lehrer darf den Zögling nicht indoktrinieren; Rousseau fordert eine der kindlichen Entwicklung angepaßte Erziehung.
Dieser antiautoritäre Abschnitt in der Erziehung hat das Ziel, dem Kind selbständiges Denken beizubringen. Mit Beginn der Jugend wird der Zögling in Kunst, Literatur und Religion geschult, wobei die körperliche Gesundheit nicht zu kurz kommen darf. Zum Beginn eines einfachen und glücklichen Lebens gehört sowohl das Erlernen eines Handwerkes als auch die Lektüre des Buches `Robinson Crusoe' von Daniel Defoe, das das Leben eines auf einer einsamen Insel gestrandete Mensch schildert.
`Contrat social' (1762); staatspolitische Schriften
Zur Wiederherstellung der Freiheit präsentiert uns Rousseau mit seinem Gesellschaftsvertrag (`Contrat social'). Jeder Bürger des Staates hat sich dem Gemeinwillen, der `volonté générale', unterzuordnen
Kleinstaat gegenüber Großstaat
Der Staat darf nicht zu groß sein, um gut regiert zu werden. Für Rousseau ist ein Kleinstaat wie der erstaunlich langlebige und stabile Stadtstaat Genf, wo er bis zum 16. Lebensjahr gewohnt hat, ideal.
Verwaltungsprobleme; Einhaltung der Gesetze; multikulturelle Hindernisse

Ein Großstaat hat mit vielerlei Probleme zu kämpfen: Da die Entfernungen groß sind, mehren sich die Verwaltungsinstanzen. Es entsteht eine starre, bürokratische Verwaltungsspitze, die alles unterdrückt und worunter die Untertanen leiden. Auf Revolten und Mißbräuche der Gesetze kann nicht schnell genug reagiert werden. Rousseau schreibt:
"Die gleichen Gesetze könnten nicht zu so viel verschiedenen Provinzen passen, die unterschiedliche Sitten haben, unter gegensätzlichem Klima leben und oft nicht dieselbe Regierungsform ertragen können. [sic!] Unterschiedliche Gesetze stiften unter Völkern, die unter derselben Obrigkeit und in dauernder Verbindung leben, daher miteinander verkehren und untereinander heiraten, nur Unruhe und Verwirrung. Sind sie verschiedenem Brauchtum unterworfen, so wissen sie nie, ob ihnen ihr Erbteil auch wirklich sicher ist. In jener Masse einander unbekannter Menschen, wo sie der Sitz der obersten Verwaltung am gleichen Ort zusammenführt, bleiben die Talente unentdeckt, die Tugenden unerkannt, die Laster unbestraft. Die Führer werden von Geschäften erdrückt und sehen nichts mit eigenen Augen: kleine Beamte regieren den Staat."
Im Kleinstaat hingegen sei die Verwaltungsspitze klein. Wichtige Kräfte würden für außerordentliche Aufgaben übrigbleiben.
Es hat, so Rousseau, oft Staaten gegeben, die darauf aufgebaut waren, sich ständig zu vergrößern, um sich zu erhalten. Irgendwann bricht ein solches Gebilde zwangsläufig zusammen: " Jedes Volk, das durch seine Lage nur die Wahl hat zwischen Handel und Krieg hat, ist in sich selber schwach: es hängt von seinen Nachbarn ab, es hängt von den Ereignissen ab. Es hat nie mehr als eine ungewisse und kurze Existenz." Die Stabilität im Auge, könne ein Kleinstaat seine Bevölkerung besser steuern als ein großer, die Landfläche intensiver und erfolgreicher nutzen. Wahrscheinlich hat Rousseau England im Sinn, wenn er von der Gründung von Überseekolonien zur Reduzierung der Population spricht. Bündnisse und Konföderationen sollen militärische Angriffe verhindern.

Religion und Staat
Laut Rousseau wurde durch das Christentum das theologische System vom politischen getrennt und die geschlossene sittlich-religiöse Einheit des Staates aufgehoben. Seither ist der Mensch Bürger zweier Welten und in sich gespalten. Er kritisiert den Universalismus des Christentums, mit seinem identitätslosen Internationalismus. Das Gefühl der Menschlichkeit wird schwächer und verliert sich, wenn es sich auf die ganze Erde erstreckt (`grande ville du monde').
Typologisch unterscheidet Rousseau drei Formen von Religion: `religion de l`homme' = der wahre Gottesglaube, universalistisch in seiner Dogmatik und auf die ewigen Pflichten der Moral beschränkt. `religion du citoyen' = sieht im Vaterland und seinem Schutzgott das Heilige. Sie verpflichtet den Bürger allein auf die spezifischen Dogmen, Gesetze, Riten und Kultformen der partikulären Volksgemeinschaft und kleidet ihr positives Recht in ein religiöses Gewand. Diese Art von staatstreuen, religiösen Staatsbürger wird von Rousseau bevorzugt. `religion du prêtre' = unterstellt den Menschen zwei voneinander unabhängigen positiven Gesetzgebungen, jenen einer weltlichen und einer kirchlichen Obrigkeit. Sie spaltet die Einheit des Staates und macht es dem einzelnen schwer, wenn nicht unmöglich, gleichzeitig ein frommer Mensch und ein guter Bürger zu sein.

Rousseaus Idealstaat
Der Staat Rousseaus hat klein, weitgehend homogen und überschaubar zu sein. Nur dadurch läßt sich eine Volksversammlung leicht einrichten. Die Bürger sollen den Sitten nach einfach und nach Recht und Vermögen möglichst gleich sein. Voraussetzung ist allerdings die völlige Unterordnung der Bürger in der Gemeinschaft. Aus den unendlich vielen Einzelwillen soll ein einheitlicher "Gemeinwille" ("volonté généralé") entstehen; jeder elitärer oder abweichender "Sondergeist" ("corps d'esprit") soll verschwinden. Für R. ermöglicht diese staatliche Unterordnung die Freiheit und Gleichheit aller, wobei die Aufgabe der natürlichen Freiheit das Erreichen der rechtlichen Freiheit ermöglicht. R. plädiert für die Verstaatlichung der Güter und Institutionen. Der Volkswille äußert sich in Gesetzen und diese wiederum sind von der Exekutive auszuführen.

Schluß
Rousseau war lebenslang eigentlich weder Schweizer noch Franzose, sondern legte zeitlebens wert darauf, als "citoyen de Genève", also als Bürger der "kleinsten Republik Europas", des Stadtstaates Genf, zu gelten. Neben Genf kamen später andere Vorbilder hinzu, wie Sparta und das frühe Rom, Staaten, in denen er Tugend, Recht und patriotischen Gemeinsinn vorherrschen sah.
Zweifellos wurden die staatspolitischen Gedanken R.s von vielen Kritikern falsch interpretiert. Andere sehen in ihnen das Gegenteil einer idealen Demokratie. So schreibt ein deutscher Skeptiker, daß die Unterdrückung jedes Sonderwillens zum vermeintlichen Wohle aller nur durch eine gewaltsame Gleichrichtung aller Interessen erreichbar sei. Die Verwaltung werde zentralisiert und das geistige Leben uniformiert, und weil dies alles nur in einer Diktatur möglich sei, bleibe die Rousseausche Idee des einheitlichen Gemein- oder Volkswillens, wie sie von der Demokratie ohne liberale Beimischung vertreten werde, "jener Mythos der berühmten 99 %, den wir aus der neueren Geschichte sehr genau kennen". (Gerhard Ritter)
Aus ähnlichen Erwägungen heraus nennt Benjamin Constant den nach Rousseaus Gedanken entwickelten demokratischen Staat den "unbeschränktesten aller Despoten". Denn in ihm ist der Volkswille praktisch unfehlbar. Spätere Kritiker ziehen Parallele zwischen R. und Hitler, und verweisen auf die Schreckensherrschaft Robespierres.
Als polnische Verschwörer R. 1771 bitten, eine Verfassung für ihr Land auszuarbeiten, die weniger verworren sein sollte als jene, die Polen an den Rande des Ruins geführt hatte, schlägt R. ausdrücklich vor, das Königreich in 33 föderativ verbundene Republiken aufzugliedern: "Mit einem Wort: macht euch daran, das föderative Regierungssystem zu entwickeln und zu vervollkommnen; es ist das einzige, welches die Vorteile der großen und der kleinen Staaten in sich vereinigen, und daher das einzige, das euch helfen kann." (Aus: "Considérations sur le Gouvernement de Pologne").
Von allen Teilen Europas hielt R. nur die Insel Korsika für fähig zu demokratischer Gesetzgebung: "Die Tapferkeit und die Standhaftigkeit, mit der dies mutige Volk seine Freiheit wiederzugewinnen und zu verteidigen wußte, verdiente gar sehr, daß ein weiser Mann es lehrte, sie zu bewahren. Eine gewisse Ahnung sagt mir, eines Tages werde diese kleine Insel Europa in Erstaunen setzen" (Contrat Social II).

Wichtigste Werke:
"Julie oder Die neue Héloise" (1761). Sentimentaler Roman. "Emile oder Über die Erziehung" (1762). Erziehungsroman. "Über den Gesellschaftsvertrag" (1762). Gesellschafts- und Staatsphilosophisches Werk. "Die Bekenntnisse" (1771). Autobiographie.

Primärliteratur (deutsch):
Schriften zur Kulturkritik. Hg. K. Weigand. 4. Aufl. Hamburg, 1983 "Kulturkritische und politische Schriften". 2 Bde. Hg. Martin Fontius. Berlin: Rütten und Loening, 1989 "Emile oder Über die Erziehung". Hg. Martin Rang. Stuttgart: Reclam, 1983 "Bekenntnisse" (franz.: "Confessions"), Frankfurt a. M.: Insel, 1985

Sekundärliteratur:
Maximilian Forschner: "Rousseau", Freiburg/München: Alber, 1977 Robert Spaemann: "Rousseau - Bürger ohne Vaterland", München: Piper, 1980
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