Brief 19 in deutscher Übersetzung (HTML)
Seneca - Brief 19 (deutsch)
- Briefe an Lucilius über Ethik (2. Buch) -
(1) Ich bin jedes Mal entzückt, wenn ich Deine Briefe erhalte; sie erfüllen mich nämlich mit begründeter Hoffnung und machen nicht mehr (bloße) Versprechungen, sondern verbürgen sich für Dich. Mach so weiter, ich bitte und beschwöre Dich - denn welche bessere Bitte hätte ich an meinen Freund zu richten als die, die lch für ihn aussprechen will; Wenn Du kannst, so entziehe Dich diesen Deinen Verpflichtungen, wenn nicht, dann reiß Dich los von ihnen! Mehr als genug Zeit haben wir vergeudet: Beginnen wir, uns im Alter reisefertig zu machen. (2) Erregt dies etwa Missfallen? Auf hoher See haben wir gelebt, lasst uns im Hafen sterben!' Nicht jedoch möchte ich Dir raten, mit Deiner Zurückgezogenheit renommieren zu wollen, die Du weder zur Schau stellen noch verbergen darfst; niemals nämlich werde ich Dich bei aller Ablehnung des hektischen Treibens der Leute so weit davon abbringen, dass Ich es wünschte, Du mögest Dir irgendeinen Unterschlupf suchen und so in Vergessenheit geraten. Handle so, dass Deine Zurückgezogenheit nicht auffallend, aber doch offenkundig sei! (3) Sodann werden jene, die bei ihren ersten Entscheidungen noch unabhängig sind, darüber befinden, ob sie das Leben im Dunkel verbringen wollen: Dir ist es nicht freigestellt. In den Mittelpunkt der Öffentlichkeit haben Dich Dein sprühender Geist, die Eleganz Deiner Schriften sowie ein prominenter und vornehmer Freundeskreis gerückt; schon hat Dich Berühmtheit mit Beschlag belegt; magst Du noch so tief untertauchen und Dich in den letzten Winkel verkriechen, Deine früheren Leistungen werden auf Dich hinweisen. (4) Im Finstern kannst Du nicht sein; folgen wird Dir, wohin Du auch fliehst, ein guter Teil des früheren Glanzes: Ruhe kannst Du für Dich beanspruchen ohne jemandes Haß, ohne Sehnsucht oder Gewissensbisse. Was nämlich wirst Du schon preisgeben, an dessen Preisgabe Du nur mit Bedauern denken könntest? Deine Klienten? Keiner von ihnen geht Dir selbst nach, sondern (nur) irgendeinem Vorteil, den er von Dir hat; einst suchte man Freundschaft, jetzt ist man auf Beute aus; ändern werden ihre Testamente im Stich gelassene Greise, begeben wird sich zu einer anderen Schwelle der morgendliche Besucher'. Nicht kann eine große Sache wenig kosten: Überlege Dir, ob Du lieber Dich (selbst) oder etwas von Deinen Dingen preisgeben möchtest. (5) Ach wäre es Dir doch beschieden gewesen, Deiner Herkunft entsprechend zu altern, und hätte Dich das Schicksal doch nicht in die Höhe gebracht!3 Weit weg von der Aussicht auf ein gedeihliches Leben hat Dich eine unaufhaltsame Karriere getragen, die Provinz, das Amt eines Prokurators und alles, was man sich noch davon verspricht; noch größere Aufgaben werden in der Folge auf Dich zukommen, und zwar nach den einen die anderen. (6) Was wird das Ende sein? Was wartest Du darauf, bis Du aufhörst, noch weitere Wünsche zu haben? Nie kommt dieser Augenblick. Wie es nach unserer Behauptung eine Reihenfolge von Ursachen gibt, aus denen sich das Schicksal zusammensetzt, 4 so gibt es auch eine solche der Leidenschaften: die eine erwächst aus dem Ende der anderen. In ein solches Leben hast Du Dich eingelassen, dass es von selbst niemals einen Schlussstrich unter Deine Nöte und Deine Knechtschaft ziehen wird. Entziehe Deinen zerschundenen Nacken dem Joch! Ein einmaliger tiefer Schnitt ist für ihn vorteilhafter als die ständige Belastung. (7) Wenn Du Dich ins Privatleben zurückziehst, wird alles bescheidener sein, aber es wird Dich hinreichend erfüllen. jetzt hingegen befriedigen Dich all die vielen und von allen Seiten an Dich herangetragenen Dinge nicht. Was ziehst Du nun aber vor: Sättigung aus dem Mangel oder Hunger im Überfluß? Gierig ist der Erfolg und fremder Gier ausgesetzt; solange Dir nichts genügt, wirst Du selbst anderen nicht genügen. (8) "Wie aber werde ich", sagst Du, "da herauskommen?" Auf irgendeine Weise. Denke an die vielen Unvorsichtigkeiten, die Du fürs Geld gewagt, an die vielen Mühen, denen Du Dich für ein Ehrenamt unterzogen hast: Etwas muß man auch für die Muße riskieren, oder in dieser Rastlosigkeit der Verwaltungsaufgaben und - später dann - der Amtspflichten in der Hauptstadt alt werden, im Getriebe und in immer neuen Wogen, denen zu entfliehen, es durch keine Zurückhaltung, durch keine ruhige Lebensführung gelingt. Was nämlich tut es schon zur Sache, ob Du Dich ausruhen willst? Deine gesellschaftliche Stellung will es nicht. Wie, wenn Du ihr auch jetzt noch erlaubst, an Bedeutung zu gewinnen? In gleichem Maße, wie der Erfolg zunimmt, wird auch die Angst zunehmen. (9) Ich will Dir an dieser Stelle einen Satz des Maecenas' zitieren, der eben auf der Folterbank' ein wahres Wort gesprochen hat. "Die Höhe selbst setzt die Gipfel Donnerschlägen aus."' Wenn Du mich fragst, in welchem Buch er das gesagt hat: in dem, das den Titel ~Prometheus< trägt. Folgendes wollte er (damit) sagen: Vom Donner gerührt sind ihre Gipfel. Ist es nun irgendeine Machtstellung wert, dass Du Dir ihretwegen eine so bombastische Ausdrucksweise aneignest? Geistvoll war jener Mann, ein großes Vorbild römischer Beredsamkeit hätte er abgeben sollen, wenn ihn sein Erfolg nicht entnervt, ja mehr noch, entmannt hätte. Dieses Ende erwartet Dich, wenn Du nicht bald die Segel streichst, wenn Du nicht, was jener zu spät wollte, vorsichtig der Küste entlang segelst. (10) Ich hätte mit diesem Ausspruch des Maecenas die Rechnung mit Dir begleichen können, doch Du wirst, wenn ich Dich kenne, einen Streit mit mir beginnen und das, was ich Dir schulde, nur in einer noch nicht abgegriffenen und gediegenen Münze entgegennehmen wollen. Wie sich die Sache verhält, muss die Anleihe bei Epikur gemacht werden.' "Eher", so spricht er, "musst Du Dich danach umsehen, mit wem Du isst und trinkst, als was Du isst und trinkst; denn ohne Freund ist das Leben eine Abfütterung eines Löwen und Wolfs. "' (11) Dies wird Dir nur dann beschieden sein, wenn Du Dich zurückziehst. Ansonsten wirst Du Gäste haben, die der Namennenner aus der Menge der Besucher ausgewählt hat; es irrt aber, wer seinen Freund im Atrium sucht und beim Gelage prüft. Keinen größeren Fehler hat ein vielbeschäftigter und von seinen eigenen Gütern bedrängter Mann, als dass er die für seine Freunde hält, denen er selbst kein Freund ist, dass er seine Gefälligkeiten als wirksam genug ansieht, um sich damit Herzen zu gewinnen, da doch manche, je mehr sie schulden, um so mehr hassen. kleine Schulden machen einen zum Schuldner, große zum Feind. (12) "Was nun? Führen Gefälligkeiten zu keinen Freundschaften?" Doch, wenn es freistand, ihre Empfänger auszuwählen, wenn sie angelegt, nicht verschwendet worden sind. Beherzige daher, bis Du Deinen eigenen Verstand zu gebrauchen beginnst, folgenden Rat der Weisen, dass Du annimmst, es sei wichtiger, wer etwas erhalten hat, als was er erhalten hat. Leb wohl!
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