Textanalyse "Das Unbehagen in der Kultur" von Sigmund Freud unter dem Aspekt "Was soll ich tun?"
GK Philosophie - Klausur über Sigmund Freud
Aufgabe:
- Erarbeiten Sie die zentralen Gedanken des Textes!
- Stellen Sie - von Freuds anthropologischem Grundsatz ausgehend - Bezüge her zu den aus dem Unterricht bekannten moralphilosophischen Theorien!
- Erörtern Sie die moralphilosophischen Konsequenzen aus Freuds Position!
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der kultur, 1929 (Ausschnitt)
Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter allem Bemühen um Kultivierung ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigungen rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, ihn zu martern und zu töten. Homo homini lupus1: wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht, deren Ziel auch mit milderen Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind, äußert sie sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist. [...] Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns selbst verspüren können, beim andern mit Recht voraussetzen, ist das Moment, das unser Verhältnis zum Nächsten stört und die kultur zu ihrem Aufwand nötigt. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellschaft beständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, [...]. Daher also das Aufgebot von Methoden, die die Menschen zu Identifizierungen2 und zielgehemmten Liebesbeziehungen antreiben sollen, daher die Einschränkung des Sexuallebens und daher auch das Idealgebot, den nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft. Durch alle ihre Mühen hat diese Kulturbestrebung bisher nicht sehr viel erreicht. Die gröbsten Ausschreitungen der brutalen Gewalt hofft sie zu verhüten, indem sie sich selbst das Recht beilegt, an den Verbrechern Gewalt zu üben, aber die vorsichtigeren und feineren Äußerungen der menschlichen Aggression vermag das Gesetz nicht zu erfassen.
Anmerkungen:
- Der Mensch dem Menschen ein Wolf (Thomas Hobbes)
- Hier im Sinne des Sich-Hineinversetzens in einen anderen Menschen
Aufgabe 1
In seinem Text ,Das Unbehagen in der kultur" von 1929 beschreibt Sigmund Freud, dass der Mensch ein triebhaftes und somit kulturzerstörendes Lebewesen ist. Er geht deshalb davon aus, dass die Bemühungen seitens der kultur lediglich ihrer eigenen Erhaltung dienen. Zu Beginn stellt Freud fest, dass der Mensch von Trieben besessen ist. Insbesondere der Aggressionstrieb ist dem Menschen inhärent. Daher ist es notwendig, eine Art der Kultivierung zu schaffen, die den Menschen von seinen Trieben nicht abbringt, jedoch sie zumindest hemmen kann. Freud beschreibt, dass dieses Aggressionspotential gerne verleugnet wird (vgl. Z. 1). Allerdings, so weiter, ist jedem Menschen klar, dass dieses Potential real existiert. Besonders deutlich macht er diesen Sachverhalt ab Zeile 8. Er zitiert hier Thomas Hobbes, Philosoph und Staatstheoretiker, mit seiner Feststellung, dass der Mensch für seine eigene Rasse ein Raubtier (Wolf) ist. Freud stellt direkt danach die rhetorische Frage, wer den Mut habe, trotz ,allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte" (Z. 9), diesen Satz widerlegen zu wollen. Der Mensch hat in der Geschichte oft genug bewiesen, dass er selbst der natürliche Feind des Menschen ist. Freud nennt noch weitere Beispiele, die das menschliche Triebverhalten darstellen, darunter Diebstahl, sexuellen Mißbrauch und auch Mord bzw. Totschlag. Insbesondere spontane Reaktionen verdeutlichen laut Freud das wahre Menschenbild: der Mensch als ,wilde Bestie" (Z. 13). Im Prinzip unterscheidet Freud zwischen spontanen Reaktionen und Reaktionen, die durch Provokation hervorgerufen wurden. Im letzten Falle sei es jedoch so, dass der Reagierende nur auf die Provokation wartet als spontan auf eine ihm Gemachte zu reagieren. Der Mensch will sozusagen triebhaft reagieren. Freud kommt nun zu der These, dass eine Notwendigkeit für die kultur besteht, hier einzugreifen. Der Mensch, der im Prinzip von sich aus keine Hemmungen hätte, muss gehemmt werden, um den Fortbestand der kultur zu gewährleisten. Freud redet hierbei von einem ,Aufwand" (Z. 18) seitens der kultur, der nötig ist. Weiterhin ist die Rede von einer ,primären Feindseligkeit" (Z. 18), die die Kulturgesellschaft bedrohe. Freud erklärt, dass triebhafte Leidenschaften (pathos) stärker als vernünftige Interessen seien (vgl. Z. 20f.). Daher müsse die kultur alles ihr Mögliche aufbieten, um eine Tendenz zur Apathia bezüglich menschlicher Triebe zu schaffen. Das eben erwähnte ,Mögliche" stellt wohl die Moral dar. Freud geht also davon aus, dass die Moral eine ,Erfindung" bzw. Methode der kultur sei, um den Fortbestand der kultur zu wahren. Auch die Gesetze, die von der kultur geschaffen wurden, dienen ihrer eigenen Erhaltung. Trotz der Bemühungen habe die kultur ,bisher nicht sehr viel erreicht" (Z. 27). Das Ziel ist zwar klar, aber der Weg dahin nicht. Die kultur nimmt sich daher das Recht, Verbrecher zu bestrafen, oder anders formuliert Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen. Jedoch, so Freud, geht die Gesetzgebung nicht auf die ,feineren Äußerungen der menschlichen Aggression" (Z. 29f.) ein, was bedeuten soll, dass im Prinzip jede noch so geringe Aggression im Keime erstickt bzw. sanktioniert werden müsste.Aufgabe 2
Freuds Theorien stellen im Prinzip den Menschen so dar, dass er keines der im Unterricht behandelten Ziele (eudaimonía, Lust, Tugend, Nützlichkeit) erreichen will, sondern von der kultur dazu ,gezwungen" wird. Der Mensch ist zwar, laut Seneca, ein vernunftbegabtes Lebewesen, aber die Vernunft muss erst durch die Moral hervorgerufen werden. Der Mensch muss mit Hilfe der Vernunft erkennen, dass seine Triebe keineswegs zur Glückseligkeit führen, die ja nach Aristoteles Ziel allen menschlichen Handelns und Strebens sein soll. Die Glückseligkeit liegt nach Aristoteles im Betrachten (also Philosophieren), keineswegs im Handeln, da jede Handlung ein Ziel verfolgt und somit nicht das Höchste unter den Zielen sein kann. Das Betrachten hingegen ist bedürfnislos, somit als hohes oder gar höchstes Ziel anzusehen. Epikur vertritt die Meinung, Ziel allen Lebens und somit Antwort auf Kants Frage ,Was soll ich tun?" müsste die Lust sein. Kein Mensch will den Schmerz. Die Kultur soll nach Freud diesen vermeiden. Dazu nutzt sie jedoch Gewalt. Epikur hätte aber eigentlich nichts dagegen einzuwenden, da er die Auffassung vertritt, dass manchmal das Leid notwendig ist, um noch größeres Glück zu erhalten. Daher ist es auch in Ordnung, dass sich die kultur die Mühe macht, menschliche Triebe zu hemmen, die eigentlich die Lust eines einzelnen erhöhen würden, da das daraus resultierende Glück längst nicht so groß wäre wie das, was aus dem Verhindern dieser Handlung entstehen würde. Für Seneca gilt, dass die Tugend Ziel allen Handelns sein müsse. Freud stellt jedoch fest, dass der Mensch nur deshalb Tugend hat, weil es kultur gibt. Konkret bedeutet das, dass der Mensch von sich aus nicht das Ziel allen Handelns erstreben will, sondern ihm entgegen tritt. Erst die kultur versucht, durch (mehr oder weniger geeignete) Sanktionen, dem Menschen das Ziel allen Handelns näher zu bringen. Es ist jedoch wichtig, dass es einheitliche Vorstellungen von Tugend geben muss, denn ein ethischmoralischer Relativismus führt zum Widerspruch in sich. Das wiederum müsste aber bedeuten, dass es nur eine kultur geben dürfte. Eine Ansammlung von Kulturen, wie wir sie kennen, führt unweigerlich zu Interessenkonflikten und evtl. Auseinandersetzungen. Das Modell nach Bentham kommt den Theorien Freuds schon recht nahe. Dieser geht vom Utilitarismus aus, also dem größten Glück für die größtmögliche Menschengruppe. Eine Handlung führt hier entweder zu Freude oder Leid. Eine Handlung sei dann moralisch gut, wenn sie dem Prinzip der Nützlichkeit entspricht, was bedeutet, dass sie das größtmögliche Glück für die größtmögliche Gruppe erbringt. Dabei wird der Mensch, der ja eigentlich Individuum ist, zum Diener der Gesellschaft. Nach Freud wird der Mensch ähnlich ,versklavt", und zwar zum Diener der kultur. Freud stellt jedoch klarer heraus, mit welchen Mitteln die kultur moralische Grundsätze durchsetzt: mit Gewalt. Diese bringt im Prinzip das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen, da das Glück des Einzelnen im Hintergrund steht und der Fortbestand der kultur das Oberste aller Güter ist. Die Frage ,Gibt es ein oder mehrere oberste Prinzipien menschlichen Handelns, nach denen eine Handlung als objektiv richtig (moralisch gut), eine andere als objektiv falsch (moralisch böse) gelten kann - und wenn ja, wie ist/sind sie beschaffen?" lässt sich nach Freud mit ,Ja" beantworten. Das oberste Prinzip menschlichen Handelns besteht in der Erhaltung der kultur.Aufgabe 3
Eine wichtige Konsequenz ist nach Freuds Theorien, dass die Grundlage jeder Moral im Fortbestand einer (oder mehrerer) Kulturen besteht. Ohne kultur würde der Mensch hemmungslos jede moralische Grenze überschreiten, und zwar ungestraft. Die Folge wäre das Überleben des Stärkeren (und evtl. seiner Gefolgschaft), oder kurz: die Ausrottung der menschlichen Art. Daher scheint es notwendig, ein funktionierendes, evtl. sogar länderübergreifendes Rechtssystem zu schaffen, das jedoch nicht in einer Art des ethischen Relativismus endet. Dieses führt - wie schon gesagt - zum Widerspruch in sich. Um nun aber zu erreichen, was Freud für notwendig hält, braucht es Individuen, die entweder eine grundlegende kultur oder aber zumindest gleiche Moralvorstellungen schaffen. Für die Kirche ist diese (oberste) Instanz Gott, für den Staat das Gesetz. Daher ist es auch notwendig, möglichst gleiche oder zumindest ähnliche Grundgesetze (Konstitutionen) zu schaffen, um zu verhindern, dass eine sonst sanktionierte Tat hinter einer anderen Grenze legal und moralisch unverwerflich ist. Freuds Position hat zur Folge, dass jede Moral begründet sein muss, damit eine Abweichung so unmöglich gemacht werden kann. Die Anerkennung der so festgelegten Moralvorstellungen ist dann jedoch für jede kultur notwendig. Auch eine Vereinheitlichung der Sanktionen wird nötig, da geringere Sanktionen die Möglichkeit erhöhen, dass die Gelegenheit Verbrecher macht (à ,Gelegenheit macht Diebe"). Das jedoch soll Problem des Staates bzw. der kultur sein, da der Fortbestand selbiger im Vordergrund zu stehen hat. Als weitere Folge ist eine Tendenz zur Apathia zu nennen (was ich auch tue). Der Mensch als solcher darf, wenn er keine Bestrafung erfahren will, nicht seinen Leidenschaften nachgehen, sofern diese den Fortbestand der kultur erschweren oder sogar verhindern würden. Das bedeutet, dass der Mensch möglichst bedürfnislos sein sollte, da er sonst eine potentielle Gefahr darstellt. Jedoch scheint mir das kaum realisierbar, da auch das Recht auf Individualität zu bedenken ist. Provokationen müssen weiterhin vermieden werden, und auch spontane Handlungen sind zuerst zu überdenken, da meistens die Konsequenzen erst dann erkannt werden, wenn sie eingetreten sind, also wenn es zu spät ist. Praktisch hieße das, dass vor einer Handlung eine Abwägung zwischen Gut und Böse stattfinden müsste, was jedoch kaum gemacht wird. Wenn es aber gemacht wird, dann nur, weil das Gewissen eingreift. Das ist dann der Fall, wenn eine Handlung voraussichtlich einen moralisch bösen Teil beinhaltet.Zur Bewertung: Sie geben die zentralen Gedanken des Textes sehr genau wieder. Der argumentative Aufbau kommt dabei deutlich zur Geltung. Freuds anthropologischen Grundsatz bezeichnen Sie treffend. Zu bekannten moralphilosophischen Theorien stellen Sie treffende Bezüge her. Besonders klar sehen Sie die Affinität der freudschen Position zum Utilitarismus. Die Konsequenzen aus Freuds Position erörtern Sie umfassend und problemorientiert, geraten aber zu stark ins Moralisieren. Im Ganzen entwickeln Sie einen stringenten Gedankengang. Ihre Darstellung ist begrifflich und syntaktisch sehr präzise. Das formalsprachliche Niveau ist sehr gut. sehr gut (x) 23. Oktober 2005
Inhalt
Klausur zum Thema Moralvorstellungen unter der Frage "Was soll ich tun?"
Besprochene Texte:
- "Die "eudaimonía" als Ziel allen Handelns" - Aristoteles
- "Die Lust als Lebensziel" - Epikur
- "Tugend als Weg zur Glückseligkeit" - Seneca
- "Das Prinzip der Nützlichkeit" - Jeremy Bentham
- "Was heißt Nützlichkeit?" - John Stuart Mill
mit Lösungen! (mehrere Seiten lang, Note: 1) (1897 Wörter)
Besprochene Texte:
- "Die "eudaimonía" als Ziel allen Handelns" - Aristoteles
- "Die Lust als Lebensziel" - Epikur
- "Tugend als Weg zur Glückseligkeit" - Seneca
- "Das Prinzip der Nützlichkeit" - Jeremy Bentham
- "Was heißt Nützlichkeit?" - John Stuart Mill
mit Lösungen! (mehrere Seiten lang, Note: 1) (1897 Wörter)
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Es handelt sich hier um einen fremden, nutzergenerierten Inhalt für den keine Haftung übernommen wird.
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