Brief 22 an Catilius
Plinius (der jüngere)
Buch 1 - Brief 22
lateinisch / deutsch
C. PLINIVS CATILIO SVO S.
Diu iam in urbe haereo et quidem attonitus. per- i turbat me longa et pertinax valetudo Titi Aristonis, quem singulariter et miror et diligo. nihil est enim illo gravius, sanctius, doctius, ut mihi non unus homo, sed litterac ipsae omnesque bonae artes in uno homine summum periculum adire videantur. quam peritus ille et privati iuris et publici! quantum rerum, quantum exemplorum, quantum antiquitatis tenet! nihil est, quod discere velis, quod ille docere non possit; mihi certe, quotiens aliquid abditum quaero, ille thesaurus est. iam quanta sermonibus eius fides, quanta auctoritas, quam pressa et decora cunctatio! quid est, quod non statim sciat? et tamen plerumque haesitat,Jubitat diversitate rationum, quas acri magnoque iudicio ab origine causisque primis repetit, discernit, expendit. ad hoc quam parcus in victu, quam modicus in cultu! soleo ipsum cubiculum eius ipsumque lectum ut imaginem quandam priscae frugalitatis adspicere. Ornat haec magnitudo animi, quae riihil ad ostentationem, omnia ad conscientiam refert recteque facti non ex populi sermone mercedem, sed ex facto petit. in summa non facile quemquam ex istis, qui sapientiae studium habitu corporis praeferunt, huic viro comparabis. non quidem gymnasia sectatur aut porticus nec disputationibus longis aliorum otium suumque delectat, sed in toga negotiisque versatur, multos advocatione, plures consilio iuvat; nemini tamen istorum castitate, pietate, iustitia, fortitudine etiam primo loco cesserit. Mirareris, si interesses, qua patientia hanc ipsam valetudinem toleret, ut dolori resistat, ut sitim differat, ut incredibilem febrium ardorem immotus opertusque transmittat. nuper me paucosque mecum, quos maxime diligit, advocavit rogavitque, ut medicos consuleremus de summa valetudinis, ut, si esset insupera bilis, sponte exiret c vita, si tanturn difficilis et lori-a, resisteret maneretque: dandum enim precibus uxoris, dandum filiae lacrimis, dandum etiam nobis amicis, ne spes nostras, si modo non essent inanes, voluntaria morte desereret. Id eIgo arduum in primis et praccipua laude dignurn puto. nam impetu quodam et instinctu procurrere ad Mortern commune cum multis, deliberare vero et causas eius expendere, utque suaserit ratio, vitae mostisque consilium vel suscipere vel ponere ingentis est animi. Et medici quidem secunda nobis pollicentur; superest, ut promissis deus adnuat tandemque me hac sollicitudine ensolvat, qua liberatus Laurentinum meuin, hoc est libellos et puoillares studiosumque otium, repetam. nunc enim nihil legere, nihil scribere aut adsidenti vacat aut anxio libet. Habes, quid timeam, quid optern, quid etiam in posterum destinern; tu quid egeris, quid agas, quid velis agere, in vicem nobis, sed laetioribus epistulis scribe! erit confusioni meae non mediocre solacium, si tu nihil quereris. Vale.
Schon lange sitze ich in der Stadt fest, und zwar in tiefer Niedergeschlagenheit. Mich erschüttert die langwierige, hartnäckige Krankheit des Titius Aristo, den ich über alles bewundere und schätze. Denn wo fände man sonst noch solche Würde, solche Unantastbarkeit, solches Wissen! Somit scheint mir nicht nur dieser eine Mensch, sondern die Wissenschaft schlechthin und alle edlen Künste in diesem einen Manne der höchsten Gefahr ausgesetzt zu sein. Wie bewandert ist er im privaten und öffentlichen Recht! Wie viele Tatsachen, Beispiele, Ereignisse aus der Vergangenheit hat er im Kopfe! Über alles, was Du wissen möchtest, kann er Dir Auskunft geben; für mich jedenfalls ist er die Fundgrube, sooft ich nach etwas Unbekanntem suche. Und dann diese Zuverlässigkeit in allem, was er sagt, dies Gewicht, dies zurückhaltende, liebenswürdige Zaudern! Was gibt es, was er nicht sogleich wüßte? Und doch zögert er meistens, schwankt zwischen sich widersprechenden Einsichten, denen er mit scharfsinnigem, sicherem Urteilsvermögen bis zu ihrem Ursprung und ihren Grundlagen nachgeht und sie danach scheidet und abwägt. Wie sparsam ist er überdies in seinen Bedürfnissen, wie mäßig in seiner ganzen Lebenshaltung! In seinem Schlafzimmer, seiner Bettstatt glaube ich immer gleichsam ein Bild altväterlicher Biederkeit zu sehen. Dies alles adelt seine Seelengröße, die nichts auf Zurschaustellung, alles auf ein gutes Gewissen hin tut und den Lohn für die rechte Tat nicht in der Wirkung auf das Publikum, sondern in der Tat selbst sucht. Kurzum, schwerlich wirst Du eins dieser Individuen, die ihr Philosophentum in ihrem Gebaren zur Schau tragen, mit diesem Manne auf eine Stufe stellen wollen. Er treibt sich nicht auf den Sportplätzen oder in den Säulenhallen herum, sucht nicht durch langatmige Dispute sich und andern die Mußestunden zu verkürzen, sondern widmet sich bürgerlicher Tätigkeit, hilft manchem durch Rechtsbeistand und öfter noch mit gutem Rat; und doch dürfte ihm, was Sittenreinheit, Pflichtgefühl, Gerechtigkeit und Unerschrockenheit betrifft, keiner dieser Gesellen den ersten Platz streitig machen. Du würdest staunen, könntest Du mit ansehen, wie geduldig er seinen Zustand erträgt, wie er gegen die Schmerzen angeht, wie er den Durst bekämpft, wie er die unsagbare Fieberhitze unbewegt unter der Decke über sich ergehen läßt. Kürzlich rief er mich und mit mir einige andre, die er besonders schätzt, zu sich und bat uns, die Ärzte über den weiteren Verlauf seiner Krankheit auszuhorchen; sei sie unheilbar, werde er freiwillig aus dem Leben scheiden, sei sie nur schwer zu behandeln und langwierig, wolle er durchhalten und bleiben. Denn er müsse sich den Bitten seiner Frau, den Tränen seiner Tochter und auch uns Freunden fügen, um nicht unsre Hoffnungen, sofern sie nicht eitel seien, durch einen freiwilligen Tod zu enttäuschen. Diese Haltung scheint mir überaus schwer zu sein und besondere Anerkennung zu verdienen. Mit Ungestüm unüberlegt in den Tod zu rennen ist nichts Außergewöhnliches, aber sich zu besinnen, das Für und Wider gegeneinander abzuwägen und dann, wie der Verstand es rät, den Entschluß zum Leben oder Tod zu fassen oder fahren zu lassen, das zeugt für einen starken Charakter. Nun, die Arzte versprechen uns einen euren Ausgang; jetzt fehlt nur, daß Gott seinen Segen dazu gibt und mich endlich von dieser bangen Sorge befreit; bin ich davon erlöst, dann kehre ich auf mein Laurentinum, das heißt: zu Büchern und Schreibtafel, zu meinen geruhsamen Studien zurück. Denn augenblicklich, wo ich an seinern Bette sitze und mich ängstige, habe ich weder Zeit noch Lust, etwas zu lesen oder zu schreiben. Nun weißt Du, was mich bedrückt, was ich erhoffe, und auch, was ich für späterhin vorhabe. jetzt laß auch Du von Dir hören, wie es Dir ergangen ist, wie Du Dich fühlst und was Du zu tun gedenkst. Hoffentlich weißt Du Froheres zu berichten. Für mich in meiner Niedergeschlagenheit wird es ein nicht unwesentlicher Trost sein, wenn Du nichts zu beklagen hast. Leb',wohl!
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Brief 22 an Catilius - Lateinischer Orginaltext und Deutsche Übersetzung (1047 Wörter)
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