Analyse: Irrungen, Wirrungen von Theodor Fontane, Kapitel 4
S. 40, Z. 37 – S. 45, Z. 28
Analyse Textauszug
Der Roman „Irrungen und Wirrungen“, 1887 von Theodor Fontane geschrieben und erstmals in der Vossischen Zeitung veröffentlicht, thematisiert am Beispiel der unstandesgemäßen Liebesbeziehung zwischen dem adligen Offizier Botho von Rienäcker und der bürgerlichen Plätterin Lene Nimptsch, die Sitten und Normen der damaligen Gesellschaft, welche sich vom Gebot der Menschlichkeit entfernt hatte.
Der Roman ist also der Epoche des bürgerlichen Realismus (1848-1890) zuzuordnen. Folglich hat die Geschichte, die im Berlin des 19. Jahrhunderts (Ende Siebziger) spielt, den Anspruch die zu dieser Zeit gegebene Wirklichkeit darzustellen.
Lene und Botho, die sich auf einem Bootsausflug an den Ostertagen kennengelernt haben und sich seitdem in aufrichtiger Liebe zugetan sind, treffen sich nun schon seit einigen Wochen regelmäßig. Die Treffen finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der feinen Gesellschaft, der Botho als adliger Offizier schließlich angehört, statt. Lediglich Lenes Pflegemutter und Lenes Nachbarn wissen von dem Liebesverhältnis.
Im Gegensatz zu der ernsten Lene, die sich des vergänglichen Charakters ihrer Verbindung mit Botho stets bewusst ist, ist Botho ein Mensch, der unbeschwert den Augenblick genießt. Er liebt Lenes Natürlichkeit und findet Gefallen an der Einfachheit ihrer Lebenswelt. Ebenso jedoch schätzt er sein bequemes Leben, den Überfluss den es ihm gestattet und die seichten Vergnügungen in der Gesellschaft unter seinesgleichen. Dies macht sich auch in dem hier zu analysierenden Textauszug aus Kapitel Sieben bemerkbar.
Die anwesenden Personen bedienen sich in diesem Textauszug rhetorischer Strategien der Auf- und Abwertung, bzw. der Beschwichtigung.
So sagt Osten zur Begrüßung „was Wedell heißt, ist mir willkommen und wenn es diesen Rock trägt, doppelt und dreifach.“ (S.41, Z.8-9). Wedell verfügt also über einen preußischen Familiennamen, [den auch Wilhelm von Wedell trug, ein Politiker dieser Zeit, der 1879 sogar konservatives Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses geworden ist. Aufgrund des gleichen Nachnamens vermutet von Osten also ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen den Wedells und somit auch eine „verwandtschaftliche“ Einstellung der beiden zur Politik, nämlich eine konservative, die auch der seinen entspricht.] Mit dem Hinweis darauf, dass Wedell aufgrund seines blauen Dragonerrockes noch willkommener ist, macht von Osten deutlich, welche Bedeutung er den Dragonern zumisst. Wedells Rock zeigt also offensichtlich an, dass er einem Dragonerregiment angehört. Ein Regiment , welches zur königlich-preußischen Armee gehört und somit im Dienste des Königs steht und einen wichtigen Pfeiler der alten monarchischen Strukturen darstellt. Dass Wedell als Dragoner ein Teil dieser traditionellen Strukturen ist und damit auch zur Erhaltung eben dieser beiträgt, ist schließlich ganz in Von Ostens Sinne. Diese zwei Dinge, der preußische Name und der preußische Rock, über Wedell zu wissen, reichen von Osten aus um Wedell als seinesgleichen zu identifizieren. Indem er diese nennt, hebt von Osten, die für ihn positiven Eigenschaften von Wedell hervor, er koppelt ihn sogleich an für ihn positive Werte und wertet ihn somit auf. Dass er ihn ausdrücklich willkommen heißt, obwohl er nur oberflächlich Maß genommen hat, ist ebenfalls eine Aufwertung, denn damit nimmt er Wedell sofort in seine Gesellschaft auf.
Von Osten wertet Wedell noch ein weiteres Mal auf, als er bekundet wie „unendlich verbunden“(S.42, Z.7) er Wedell sei und welch „brillanter Einfall von Botho“(S.42, Z.7-8) es gewesen sei ihn zum Lunch mitzubringen. Überdies wertet von Osten hier aber auch noch seinen Neffen Botho auf, indem er ihn brillant nennt. Das Adjektiv brillant ist für die Leistung, die Botho erbracht hat, nämlich einen Freund zum Mittagessen mitzubringen, extrem positiv gewählt.
Als von Osten seinem alten Rittmeister Manteuffel den Verdienst einer gewonnen Schlacht zuschreibt, bemerkt Botho nur: „Gewiß, man kann es sagen.“( S.43, Z.2). Mit diesem Ausspruch sagt Botho gleichzeitig, dass man jenes auch nicht sagen kann, also anders sehen kann, der Verdienst vielleicht einem Anderen zuzuschreiben ist. So wertet er die Situation (bzw. Manteuffel), wie sein Onkel sie beschrieben hat, eindeutig ab.
Darauf reagiert der Baron auch prompt, er hält nun eine lange Rede darüber, dass ein „gewisser Kürassieroffizier aus der Reserve“, „ein gewisser Halberstädter mit schwefelgelbem Kragen“ nichts gelernt habe „als Depeschen schreiben“. Hier beschreibt von Osten Bismarck. Der Baron sieht durch Bismarcks, der zu diesem Zeitpunkt eine scheinbar fortschrittliche Politik betrieb –er versuchte nämlich Adel, Arbeiter und Bürger einander näher zu bringen und zu diesem Zweck erließ er die erste Verfassung- seinen Stand, den Adel bedroht. Von Osten gesteht Bismarck keine anderen Fähigkeiten zu als Depeschen zu schreiben. Das ist eine gravierende Abwertung für Bismarck, der wie man heute weiß, eine in der Tat sehr geschickte Politik betrieben hat. Im nächsten Atemzug beschwichtigt von Osten jedoch indem er zugibt, dass Bismarck immerhin sehr gut Depeschen schriebe (vgl. S.43, Z.23-24). Dann wiederum betitelt er Bismarck deshalb als „Federfuchser“ (S.43, Z.24), das klingt harmlos, ist aber sehr abwertend gemeint.
Von Osten fährt noch eine Weile fort, sich über Bismarck phrasenhaft auszulassen und wertet diesen noch mehrfach und auf vielfältige Weise durch seine Sprache ab. Als er aber bemerkt, dass Botho und Wedell zu diesem Thema schweigen sagt er: „Ich bitte Sie, sprechen Sie. Glauben Sie mir, dass ich andere Meinungen hören und ertragen kann(..).“ So schafft der Baron bei seinen Gesprächspartnern den Eindruck, dass er offen ist. Die direkte und höfliche Aufforderung sich ebenfalls zu äußern, verstärkt den Eindruck, dass von Osten für Anderes tatsächlich Verständnis haben könnte. Es liegt eine Form der Beschwichtigung vor.
Genauso beschwichtigend ist es, wie Wedell von Osten zustimmt „Gewiß, Herr Baron, es ist, wie sie sagen“ (S.44, Z.33f.). So signalisiert er dem Baron, dass er keinesfalls ernsthaft widersprechen will. Wedell fährt fort sich unverfänglich zu dem Thema, zu welchem der Baron Stellung bezogen hat, nämlich dass Bismarck ungerechtfertigt den Ruf eines märkischen Adeligen ruiniert habe und damit die Ehre seines eigenen Standes beschmutzt habe, zu äußern. „Was die Schwäche nicht darf, das darf die Reinheit, die Reinheit der Überzeugung, die Lauterkeit der Gesinnung. Die hat das Recht der Auflehnung, sie hat sogar die Pflicht dazu. Wer aber hat diese Lauterkeit?“ (S.45, Z.7-11) Hier erklärt Wedell, dass es prinzipiell gut und richtig ist, eigentlich sogar imperativ ist, sich hin und wieder aufzulehnen. Allerdings nur unter der Bedingung der Reinheit der Überzeugung, der Lauterkeit. Diese habe aber ohnehin kaum jemand, wie seine rhetorische Frage am Ende seines Ausspruchs suggeriert. Dadurch entschuldigt er zum Einen ein möglicherweise falsches Vorgehen des märkischen Adeligen, sagt aber andererseits klar, dass der märkische Adelige sich wirklich anmaßend verhalten habe. „Die Reinheit der Überzeugung, die Lauterkeit“ ist eine Formulierung, die für jede Interpretation offen ist. Es wirkt ganz so, also ob Wedell Verständnis für die Seite des märkischen Adeligen habe, Wedell versucht den Baron zu beschwichtigen, indem er für die Auflehnung des märkischen Adeligen erst oberflächlich Verständnis zeigt und dann indem er den märkischen Adeligen dadurch aufwertet, dass er dessen Fehler als nicht selbstverschuldet betrachtet.
Und tatsächlich lässt der Baron sich von Wedell beschwichtigen. „Der Reine darf alles“ (S.45, Z. 16-17) schließt Wedell ab und der Baron greift diesen Satz als „kapitalen Satz“ (vgl. S.45, Z.21-22) auf. Das zeugt von der inhaltlichen Anerkennung dessen, was Wedell gesagt hat, von Osten wertet Wedell abermals auf und dass obwohl dieser zwischen den Zeilen von Osten widersprochen hat. Wedell hat also geschickt und erfolgreich rhetorische Strategien der Aufwertung und der Beschwichtigung eingesetzt.
Das Gespräch in dem Textauszug verläuft also folgendermaßen: Nachdem von Osten seinen Neffen, aufgrund einer leichtfertigen Äußerung, als in der Politik vermeintlich unerfahren entlarvt (vgl. S.43, Z.30ff), belehrt er diesen, indem er in einem langen Monolog und sehr aufgeregt-dem reizanfälligen Gemüt des Barons entsprechend- ausführliche Kritik an Bismarcks Politik übt. Wedell, von dem von Osten eine gleichermaßen konservative Meinung erwartet, bezieht geschickt, nachdem er von von Osten dazu aufgefordert wird, eine neutrale Position. Von Osten fühlt sich dennoch von Wedell bestätigt und erkennt diesen deshalb als ebenbürtigen Konsorten an. An dieser Stelle endet das Gespräch über Politik, das eindeutig von Osten mit seinem riesigen Redeanteil dominiert hat. Botho wird von seinem Onkel als leichtsinnig und politisch falsch eingestellt, was auch auf unzureichende Ernsthaftigkeit schließen ließe, dargestellt. Ein Bild, welches durchaus zu dem leichtlebigen Botho, den der Leser bisher kennengelernt hat, passt. Wedell verkörpert durch seine Anwesenheit bei diesem Gespräch eine bestimmte politische Symbolik, welche von Osten überhaupt erst den Anstoß gibt über ein (ernstes) Thema, wie Politik zu sprechen. Weiterhin veranschaulicht Wedell die Kunst, der feinen Gesellschaft sich stets unverfänglich, auch zu den ernsteren Themen des Lebens zu äußern. Das spiegelt ebenfalls einen wichtigen Aspekt aus Bothos Lebenswelt wider, welcher noch in späteren Situationen im Zusammenhang mit seinem Verhältnis zu Lene maßgeblich wird.
Inhalt
Analyse von S.40-47 unter besonderer Berücksichtigung der rethorischen Strategien der Auf- bzw. Abwertung. (1586 Wörter)
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