Schuldfrage bei Sophokles
Interpretation einer Dramenszene aus "Antigone" von Sophokles
In seinem antiken Drama „Antigone“ legt Sophokles seine ganze Kunst in die Darstellung einer modernen und aufgeklärten Frau. Es geht um Schuld und Unschuld, um Gehorsam und Rebellion.
Antigone, eine rebellische und willensstarke junge Frau, die gleichzeitig die Hauptfigur in dieser Tragödie verkörpert, tritt hier in den Konflikt mit dem starken autoritären Führer des Staates Theben.
Kreon, der Herrscher Thebens, dem sein Staat über allem steht, erlässt bei Todesstrafe das Bestattungsverbot über Polyneikes, der im Kampfe ‚gegen den Staat gefallen ist.
Antigone, Schwester des Polyneikes, sieht es jedoch als ihre Pflicht an, ihren Bruder würdig zu bestatten. Denn nach dem Göttergesetz, welches für Antigone an höchster Stelle steht, hat jeder Mensch, egal welches Leben er hinter sich gelassen hat, das Recht auf ein Begräbnis.
Antigone und Kreon vertreten also völlig gegensätzliche Positionen.
Sie handelt nach dem Göttergesetz, während Kreon sich an die irdischen Gesetze hält, welche er als Staatsoberhaupt erlässt.
In der im Folgenden zu interpretierenden Szene treffen Haimon, Verlobter Antigones, und Kreon, dessen Vater, zum ersten Mal aufeinander. Es kommt zu einer Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn, in dessen Mittelpunkt die Hinrichtung Antigones steht.
Der Dialog zwischen Sohn und Vater beginnt mit der an Haimon gerichteten Frage „Liebst du den Vater stets, was er auch tut?“ (Z. 634). Er möchte sich damit des Gehorsams seines Sohnes sicher sein, den Kinder ihren Eltern entgegenbringen sollten, da die Eltern für die Kinder die übergeordnete Autorität darstellen. Haimon bestätigt Kreons Position und macht deutlich, dass Kreon für ihn Autorität ausstrahlt und er sich ihm untergeordnet fühlt, indem er sagt „Dein bin ich […] Du lenkst meinen Sinn […] ich folge dir.“ Durch die Pronomen „Dein“, „Du“ und „Dir“ verstärkt er seine Sichtweise bzw. seine Position unter Kreon. Außerdem sagt er in Bezug auf Antigone, dass ihm keine Ehe „köstlicher“ als seine Führung sei, mit der Bedingung, dass eben diese Führung „auf rechtem Weg“ (Z. 638) geschehe.
In der darauf folgenden sehr langen Replik Kreons macht dieser seine Sicht der Dinge deutlich, seine Position gegenüber Frauen und seine Ansichten von Gehorsam. So sagt er hier zum Anfang seiner Replik „Des Vaters Wille gehe vor in allem.“ (Z. 640). In Verbindung mit dieser Aussage macht er Haimon seine Stellung zu Feinden klar. In seinen Augen stellt Antigone eine diese dar. Sie hat gegen das irdische Gesetz verstoßen und ist somit eine Feindin des Staates Theben und eine Feindin Kreons, denn er ist der Herrscher im Staat. Kreon fordert Haimon dazu auf, seine Verlobte Antigone ‚im Stich zu lassen’. Er sagt hier: „Verwirf sie Wie eine Feindin!“ Kreon will seine kürzlich gewonnene Macht behalten und stärken, denn wenn er Antigones Tat nicht vergelten würde, würde das Volk ich nicht mehr als autoritären Führer achten und er könnte so einen Teil seiner Macht einbüßen. „Zücht ich den Trotz Schon bei Verwandten, wie viel mehr im Volk!“ – Kreon, als Antigones Onkel zeigt hier eindeutig die Kontrahentenposition. Er wird Antigone bestrafen und sie die Konsequenzen aus ihrem „falschen“, jedoch moralisch richtigen Handeln, ziehen lassen – die Todesstrafe. Denn „Sie war die einzige in der ganzen Stadt, Die offen den Gehorsam […] versagte.“ (Z. 655f.). Für Kreon ist „Zuchtlosigkeit […] das Allerschlimmste!“ (Z. 672). Ihm gilt es „Ordnung Schaffende zu schützen Und ja nicht einem Weibe sich zu beugen!“ Dem Herrscher Thebens steht also nicht nur die Missachtung der Gesetze im Allgemeinen im Mittelpunkt, sondern das Brechen von Gesetzen insbesondere durch Frauen. Er lasse sich lieber von einem Manne verdrängen als von einer Frau, denn „Dann heißt es nicht, ich lasse Weiber herrschen.“ (Z. 680). Man erkennt hier deutlich an dieser Replik Kreons, dass dieser das weibliche Geschlecht minderwertig betrachtet. Er sieht sich als Mann dem weiblichen Geschlecht höher gestellt und macht so auch die Rolle der Frau in der Antike deutlich. Kreon verlangt vollsten Gehorsam von „seinem“ Volk und vor allem von Frauen seines Staates. Er stellt sich als höchstes Element im Staat dar. Jedoch muss man seine Sichtweise auch in einem gewissen Teil verstehen. Er ist eben erst Herrscher geworden und will seine Macht, seine autoritäre Wirkung auf das Volk, welches unter ihm steht, nicht verspielen. Dem Zuschauer tritt Kreon hier als machthaberischer Herrscher und selbstsüchtiger Mann gegenüber.
Jetzt folgen einige Worte des Chores, die zwischen Schauspieler und Publikum vermitteln sollen. Dem Zuschauer soll die Situation hier tief verinnerlicht werden. So sagt der Chor hier: „Verständig war das Wort, das du gesprochen.“ (Z. 683).
Nun folgt eine Replik Haimons, annähernd genauso lang wie die Kreons. Er macht hier seine gegensätzliche Position gegenüber seinem Vater deutlich. Haimons Ansicht nach ist Antigone unschuldig „Sie, die unschuldigste von allen Frauen […]“ (Z. 694). Auch das Volk sorge sich um Antigone. So kam es ihm „insgeheim zu Ohren, wie sich die Stadt um dieses Mädchen härmt […]“ (Z. 692f.). Obwohl er doch gegen die Ansichten seines Vaters ist bzw. sich gegen die Ansichten seines Vaters ausspricht, will er ihm doch nichts Schlechtes. Er sagt hier: „Vater! Nichts wünsche ich mir sehnlicher, / Als dass du glücklich bist.“ (Z. 701f.). Obschon Haimon hier zu Antigone, seiner Verlobten, steht und ihre Tat als „schönste Tat“ (Z. 695) bezeichnet, möchte er Kreon aus seiner misslichen Lage helfen. Er klagt seine Sturheit und seinen Starrsinn an, indem er hier sagt: „Drum laß nicht nur deine Denkart gelten, Die du für richtig hältst, und keine andre!“ (Z. 705f.). Durch diese appellative Rede wird seine Position verstärkt. Er „diagnostiziert“ aus diesem starrsinnigen Verhalten Unglück. So führt er hier als Symbol an „Was wiedersteht, reißt’s mit den Wurzeln fort.“ (Z. 715).
Haimon stellt sich gegen seinen Vater und auf die Seite seiner Verlobten – Antigone.
Haimon zeigt hier in diesem Dialog also Ungehorsam gegenüber seinem Vater bzw. der Autorität. Er schätzt zwar Kreon in der Rolle des Vaters, missachtet jedoch seine Rolle als Staatsoberhaupt und vertritt nicht die Ansichten des Vaters.
Kreon jedoch verhält sich gehorsam gegenüber seinen Gesetzen, die für ihn die Autorität darstellen. Er handelt zwar gegenüber den Göttergesetzen nicht moralisch korrekt und lässt Antigone hinrichten, doch achtet er den Staat als höchstes aller Dinge und bringt diesem Gehorsam entgegen.
Dieser Dialog zwischen Kreon und seinem Sohn Haimon stellt den Höhepunkt des Dramas dar und zeigt dem Zuschauer, wie weit Gehorsam den Menschen bringen kann.
Wörter: 1027
Inhalt
Interpretation einer Dramenszene aus „Antigone“ von Sophokles mit Zitaten.
Oberthema: Schuldfrage bei Sophokles (1038 Wörter)
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