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Analyse / Interpretation von 'An Schwager Kronos'

Alles zu Johann Wolfgang Goethe  -  An Schwager Kronos

Johann Wolfgang Goethe: „An Schwager Kronos" (1774)


In der Postchaise den 10. Oktober 1774
1 Spude dich, Kronos!
Fort den rasselnden Trott!
Bergab gleitet der Weg;
Ekles Schwindeln zögert
Mir vor die Stirne dein Haudern.
5 Frisch den holpernden Stock
Wurzeln Steine den Trott
Rasch in's Leben hinein!
Nun schon wieder
10 Den eratmenden Schritt
Mühsam Berg hinauf.
Auf denn, nicht träge denn!
Strebend und hoffend an.
Weit hoch herrlich der Blick
15 Rings ins Leben hinein
Vom Gebürg zum Gebürg
Über der ewige Geist
Ewigen Lebens ahndevoll.
Seitwärts des Überdachs Schatten
20 Zieht dich an
Und der Frischung verheißende Blick
Auf der Schwelle des Mädchens da.
Labe dich! - Mir auch, Mädchen,
Diesen schäumenden Trunk
25 Und den freundlichen Gesundheitsblick!
Ab dann, frischer hinab!
Sich, die Sonne sinkt.
Eh' sie sinkt, eh' mich faßt
Greisen im Moore Nebelduft,
30 entzahnte Kiefer schnattern
Und das schlockernde Gebein, Trunknen vom letzten Strahl
Reiß mich, ein Feuermeer
Mir im schäumenden Aug',
35 Mich Geblendeten, Taumelnden
In der Hölle nächtliches Tor!
Töne, Schwager, dein Horn,
Raßle den schallenden Trab,
Daß der Orkus vernehme, ein Fürst kommt,
40 Drunten von ihren Sitzen
Sich die Gewaltigen lüften.

Interpretation:
Selten läßt sich die Frage der Entstehung so genau beantworten wie bei dieser Hymne des jungen Goethe. Die erste Fassung" des Gedichts, die den folgenden Ausführungen zugrunde gelegt wird, enthält den datierenden Zusatz: „In der Postchaise den 10. Oktober 1774". Ende September hatte der durch seinen Gölz und den gerade erschienenen IYler-tber bereits bekannte junge Goethe Besuch vom berühmten „Dichterfürsten" Klopstock erhalten, den Goethe bei dessen Abreise von Frankfurt bis Darmstadt begleitete. Das Gedicht ist „aus" der Gelegenheit entstanden, wohl auf der Rückfahrt von Darmstadt. Die Postkutschenfahrt, die historische Rahmensituation des Gedichts, wird dichterisch umgedeutet zum Bild der Fahrt des Lebens.
Der kraftgenialische Duktus der Sturm und Drang-Zeit prägt die eindrucksvolle sprachliche Gestaltung der Hymne, deren Rhythmus bestimmt wird durch eine eigenwillige Syntax der freimetrischen Verse, durch asyndetische Reibungen und Inversionen, Exklamationen, Imperative und zahlreiche Wortverkürzungen. Im Stil der Hymne spiegelt sich das Verlangen der „Stürmer und Dränger", die durch Tradition und Konvention vorgegebene Schranke zu durchbrechen.
1789 nahm Goethe den Kronos in die Schriftei auf, allerdings in einer stark überarbeiteten Fassung: Diese tilgt den Hinweis auf die Entstehung und nimmt der Hymne so den konkreten Bezug mit das persönliche Erlebnis. Die Mehrzahl der Änderungen ist dem Anspruch größerer sprachlicher Klarheit verpflichtet; der Rltvthmus der Hymne, der in genauer Korrespondenz zum Inhalt steht, bleibt gewahrt. Einige Beispiele machen den Charakter der Überarbeitung deutlich: So wurde aus den schwer verständliLhen Versen 6 und 7 der Satz „Frisch, holpert es gleich,/Über Stock und Steine den Trott". Vers 17 erhält mit dem Verb „sLliweben" eine das Verständnis erleichternde Ergänzung. Zwei mundartliche Besonderheiten werden getilgt: „Zaudern" ersetzt „Haudern" (V. 5), „schlottern" „schlockern" (V. 30). Auch die übrigen Änderungen haben die Aufgabe, die Sprache zu glätten und den radikalen Genie-Ton zu mildern. (Auf die Umgestaltung der Schlußverse wird in der Interpretation genauer eingegangen.)
Das metrisch ungebundene Gedicht gliedert sich in sieben ungleich lange Versabschnitte, die jedoch, bis auf ein Enjambement zwischen dem fünften und sechsten, die syntaktische Einheit wahren. Die ersten drei Abschnitte unterliegen in ihrer Bewegung dem Prinzip der Diastole, die ins Weite drängt, denen mit d:°m vierten Abschnitt das systolische Moment folgt, das in die Enge zieht. Gerichtet ist die Hymne an Schwager Kronos: Der „Schwager" - eine zeitgenössische Bezeichnung für den Kutscher - ist der antike Zeitgott Chronos, der hier (wie auch schon in der römischen Antike) gleichgesetzt wurde mit dem Göttervater Kronos, der den Wagen für die Fahrt des Lebens lenkt.
Die ersten beiden Abschnitte führen in die Situation der Kutschfahrt ein. Aber schon der Eingangsvers deutet mit der Anrede des Zeitgottes auf die symbolische Bedeutung; im mythisclien Bild zeigt sich die metaphorische Ebene des lyrischen Geschehens. Der erste Imperativ, „Spude dich", evoziert bereits die Vorstellung der Eile, zu der das lyrische Ich drängt (vgl. auch ..rasch", V. 8). Der „rasselnde" (V. 2) und „holpernde" (V. 6) „Trott" (V. 2/7), den Rhythmus und Klang der Zeilen wiederholen, behindert die Fahrt. Hinzu kommt das zögernde „Haudern" (V. 5) des „Schwagers", das im lyrischen Ich „ekles Schwindeln" erregt, als Störung empfunden wird. „Stock Wurzeln Steine" erschweren die Fahrt „bergab" (V. 3), in die Unbilden des Lebens, die die asyndetische Reihe in Vers 7 symbolisiert. Die Syntax setzt sich über Regeln der Grammatik, über logische Zusammenhänge hinweg und drückt statt dessen die Folge der subjektiven Wahrnehmung und Assoziation aus. hn letzten Vers des ersten Abschnitts wird die symbolische Bedeutung der konkreten Ausgangssituation transparent: „in's Leben hinein!" (V. 8). Die Aufforderung, die Fahrt ,frisch" (V. 6) anzugehen, und das betonte Schlußwort „hinein!" deuten bereits vor auf den Lebensoptimismus, der sich Ende des zweiten Abschnitts ausspricht.
Der zweite Abschnitt ist antithetisch auf den ersten bezogen. Ging die Bewegung im einleitenden Versblock „bergab", so geht sie jetzt mühevoll „hinauf" (V. 11). Die stete Wiederholung des Wechsels, zugleich das Auf und Ab des Lebens, zeigt der Hinweis in Vers 9. Aber in den beiden Schlußversen des Abschnitts antwortet das lyrische Ich dem „eratmenden Schritt" mit unveränderter Energie und fordert den „Schwager" heraus, der offenbar mit der forschen Munterkeit nicht Schritt hält („nicht träge denn!", V. 12). Es wird deutlich, daß das lyrische Ich in der Person des Reisenden sich der Fahrt - und damit der Zeit - nicht einfach unterwirft, sondern ihr gegenüber selbstbewußt und fordernd auftritt. „Strebend und hoffend an" (V. 13) faßt den Optimismus des lyrischen Subjekts begrifflich zusammen, drückt enthusiastischen Eifer, Selbstvertrauen und Zuversicht auf dem Weg „in's Leben" aus.
Im dritten Abschnitt verändern sich Perspektive und Stimmung. Die Bewegung des Gedichts kommt für kurze Zeit zur Ruhe. War der Blick des lyrischen Ich im ersten Abschnitt nach unten und konträr dazu im zweiten nach oben gerichtet, so zeigt der einleitende Vers des dritten Abschnitts den Blick aus erhabener Höhe; der Wechsel der Perspektive zur Gipfelschau wird durch einen doppelten Hebungsprall hervorgehoben: „Weit hoch herrlich der Blick" (V. 14). Sprachlich und inhaltlich bildet dieser Abschnitt einen lyrischen Höhepunkt. Die Ruhe des Gipfelblicks gibt der getragene Ton der Verse wieder, die sich in ihrer metrischen Struktur von den vorangegangenen unterscheiden. Der verblose Abschnitt verzichtet auf Imperative, die die beiden ersten Versblöcke prägen.
In der emphatischen Überschau offenbart sich dem lyrischen Subjekt eine höhere Dimension, der Blick in die räumliche und zeitliche Unendlichkeit wird zur Einsicht in das Leben schlechthin. Erst hier wird mit dem „Blick" die Totalität von innen und außen erreicht, die in Goethes Bildlichkeit durch das Auge hergestellt wird. 1)a das Auge bei Goethe eine besondere Affinität zur menschlichen Seele besitzt, zeigt der Anfang des dritten AbscInntts eine neue Erlebnisstufe an. Vers 15 variiert die Formulierung der Sch1„ßzeile itn ersten Abschnitt. Die neue Einsicht „rings ins Leben hinein" (V. 15), die die Vielfalt des menschlichen Lebens erkennen läßt, verbindet sich mit der Ahnung des Göttlichen (V. (7/18). Zur Ebene der chronometrischen Zeit der Kutschfahrt und der symbolisierten Zeit des Lebens tritt die Zeitlosigkeit. Den flüchtigen Erscheinungen des Lebens, die die beiden ersten Abschnitte implizieren, steht der „ewige" Augenblick im erhabenen Gipfelblick des lyrischen Ich gegenüber. 16
Der vierte Abschnitt wechselt von der weiten, in die Unendlichkeit weisenden Ferne in die konkrete Nähe. Die Rast des Reisenden greift das Grund-Motiv der Kutschfahrt wieder auf. Der Eingangsvers deutet darauf hin, daß das folgende lyrische Erlebnis nicht das eigentliche Ziel der Fahrt „ins Leben" bildet, sondern „seitwärts" (V. 19) vom Weg liegt. Die Anziehungskraft (V. 20) des Ortes scheint sich zunächst nicht auf das lyrische Ich, sondern auf den „Schwager" zu beziehen (vgl. auch V. 23: „Mir auch"). Nicht nur der „Schatten", der Schutz vor der Sonne, Erholung und Kühlung schenkt, verspricht Erfrischung, sondern auch der „verheißende Blick" des Mädchens, der das Motiv der Liebe - auf die Ganzheit des Lebens hindeutend - in die Hymne hineinnimmt. Die räumliche Bestimmung „auf der Schwelle" (V. 22) verweist auf das Bild der Hütte, das in vielen Gedichten Goethes für den „urandrer", der hier mit dem Reisenden identisch ist, den Ort der Ruhe im wechselnden Lauf des Lebens bedeutet. Vers 23 schließt das lyrische Ich nach der Oberleitung durch den Gedankenstrich in das Geschehen ein; er beinhaltet den einzigen Wechsel der Anrede innerhalb des Gedichts. Begleitet „Schwager Kronos" den Reisenden auf der Fahrt des Lebens, so ist das Gegenüber dieser sinnenhafte Liebe nur andeutenden Begegnung das ,Mädchen", das dem Reisenden nach dem Moment geistiger Konzentration und einsamer Höhe im dritten Abschnitt einen Augenblick der freundlich-geselligen Erholung und Erfrischung gewährt.
In den folgenden Versabschnitten nimmt das lyrische Ich die rasende Lebensfahrt wieder auf. In antithetischem Bezug zum „Auf denn" (V. 12), das dem Gipfelstreben die Richtung wies, beginnt der fünfte Abschnitt mit der Richtungsangabe „Ab dann [...] hinab" (V. 26). Präzisiert wird das Endziel der Reise in Vers 36 („Hölle"; „Orkus", V. 39). Die enge Bindung der symbolischen Bedeutungsebene an den nacherlebbaren Vorgang der Kutschfahrt löst sich in den drei Schlußabschnitten zunehmend; den Alterungsprozeß überspringend wird der Tod visionär antizipiert. Er erscheint nicht als Endpunkt der Kutschfahrt, sondern als Übergang; die Grenzen des Lebens öffnen sich für den Bereich des Jenseitigen.
Der fünfte und sechste Abschnitt, durch ein Enjambement verbunden, stellen diese neue Dimension der Lebensfahrt dar, die im letzten Abschnitt in der vorweggenommenen Ankunft am Ziel gipfelt. Daß die Reise „frischer" hinab geht, weist zurück auf die labende Erfrischung im mittleren und den Zuruf im ersten Abschnitt (V. 6/8), doch führt sie nicht mehr in die Gegenwart des diesseitigen Lebens, sondern in die vergegenwärtigte Zukunft des jenseitigen. Der Untergang der lebenspendenden Sonne (V. 27) symbolisiert den Übergang vom Bereich des Lebens in den des Todes, er antizipiert das Ende der Lebensfahrt. Aber der Reisende unterwirft sich auch hier nicht der Führung des „Schwager Kronos", der Zeit („Eh' sie sinkt, eh' mich faßt", V. 28), er behält den imperativischen Ton bei („reiß mich", V. 33), erscheint aber nun im Sog der Bewegung. In rasender Fahrt geht es vorbei am Lebensabschnitt des Alters, diesen - beschrieben in einer Reihung makabrer Bilder (V. 29-31) - gleichsam überspringend.
Die bald untergehende Sonne vermag dem Blick des Reisenden noch visionäre Kraft zu verleihen. Hier spürt der Leser nichts von der sehnenden Hingabe des lyrischen Subjekts in der Ganywed-Hymne, dem getragenen Aufgehen in die Liebe des „alliebenden Vaters" - der Reisende der Kronos-Hymne geht in vollem Selbstgefühl und mit „schäumender" Energie dem jenseitigen Leben entgegen, veranschaulicht im Bild des mythischen „Orkus". Dem ekstatischen, enthusiastischen Gefühl des Reisenden („Trunknen vom letzten Strahl", V. 32) entspricht die fehlende Klarheit des Blicks („ein Feuermeer/Mir im schäumenden Aug'", V. 33-34) im Angesicht des antizipierten Ungeheuren. Blendung und Taumeln (V. 36) lassen Orientierungslosigkeit und Unsicherheit ahnen. Vers 36 benennt das Ziel der Reise: Die Lebensfahrt wird zur Reise in den Tod, aber dieser erscheint nur als Durch~a»g („der Hölle nächtliches Tor!").
~ leer letzte Abschnitt zeigt den Reisenden in seinem maßlos Ubcrsteigerten Selbstwertgefühl. Der einleitende Imperativ weist /urück auf den Anfangsvers der Hymne: Der Befehl richtet sich :t» Schwager Kronos, doch wird dieser nicht mehr namentlich ~:1ie noch in der ersten Zeile, sondern nur mit seinem Titel ange* edet („Schwager", V. 37), seine Funktion damit auf die des Wagenlenkers reduziert. Lautstark und selbstbewußt soll er die Ankunft in der Unterwelt akustisch ankündigen (V. 37/38). Die stolze Selbstbehauptung des Reisenden gegenüber Chronos, der Zcit, setzt sich fort gegenüber den Göttern, den „Gewaltigen" des „Orkus".
Die letzten Verse des Gedichts zeigen das lyrische Subjekt auf (iem Gipfel des Selbstbewußtseins, wie es die Gedichte Goethes nur in der Sturm und Drang-Periode ausdrücken. Ein Vergleich init der späteren Fassung des Schlußbildes, welche die Übersteigerung des Selbstgefühls zurücknimmt, macht dies deutlich: „l)ai3 der Orkus vernehme: wir kommen,/Daß gleich an der l'üre/Der Wirt uns freundlich empfange." Wie ungleich harmloser lesen sich diese Zeilen, keine Spur mehr von der genialischen Hybris des Ehrfurcht verlangenden „Fürsten" (V. 39), der die traditionelle Hierarchie respektlos-übermütig umkehrt („Drunten von ihren Sitzen/Sich die Gewaltigen lüften", V. 40/41). Das Gedicht über eine Kutschfahrt, gedeutet als Lebensfahrt, erweist Sich als eine Hymne an das Leben, dessen kreatürliche Begrenzting im Tod als Übergang aufgehoben wird. Noch im Angesicht des „Orkus" zeigt sich die titanische Selbstbehauptung des lyriscllern Ich, das menschliche Begrenztheit negieren will.
Erinnert man sich an die Entstehung der Hymne aus der Gelegenheit der Rückfahrt Goethes von Darmstadt, so ließe sich die bahrt des Lebens auch als Rückblick des Dichters auf das eigene Leben und als Antizipation seiner künstlerischen Zukunft deuten. Das im Schlußabschnitt erkennbare Selbstbewußtsein des lyrischen Subjekts wäre auf der Ebene einer solchen Deutung als dichterisches zu interpretieren, das die Selbstbehauptung gegenüber der Tradition - wie sie die Sturm und Drang-Generation kennzeichnet -, vielleicht sogar einen Hinweis auf den „Dichterfiirsten" Klopstock miteinschließt.
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Das Gedicht 'An Schwager Kronos' (in der Postchaise, den 10. Oktober 1774) komplett mit Analyse / Interpretation! (2092 Wörter)
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