Interpretation von "An Schwager Kronos" (In der Postchaise)
Selten kann man die Entstehung einer Hymne so genau bestimmen wie bei diesem Beispiel des jungen Goethe. Die erste Fassung von „"An Schwager Kronos“" enthält den datierenden Zusatz: „"In der Postchaise den 10. Oktober 1774". Ende September hatte der junge Goethe, durch seinen gerade erschienenen Götz und Werther bereits bekannt, Besuch vom berühmten „"Dichterfürsten" Klopstock erhalten, den Goethe bei dessen Abreise von Frankfurt bis Darmstadt begleitete. Das Gedicht ist bei dieser Gelegenheit entstanden, wahrscheinlich auf der Rückfahrt von Darmstadt. Die historische Rahmensituation der Postkutschenfahrt wird dichterisch umgedeutet zum Bild der Fahrt des Lebens.
Der kraftgenialistische Duktus der Sturm und Drang Zeit prägt die eindrucksvolle sprachliche Gestaltung der Hymne, deren Rhythmus bestimmt wird durch eine eigenwillige Syntax der freimetrischen Verse, durch asyndetische Reihungen und Inversionen, Apostrophen, Ellipsen, Imperative und zahlreiche Wortverkürzungen. Im Stil der Hymne wiederspiegelt sich das Verlangen der „Stürmer und Dränger", die durch Tradition und Konvention vorgegebene Schranke zu durchbrechen. Verwirklicht wird es durch die symbolische Überhöhung. Die enorme Begeisterung Goethes, die in dem Gedicht deutlich wird, lässt sich mit dem Besuch Kloppstocks erklären.
Das metrisch ungebundene Gedicht, welches keinem Reimschema folgt, gliedert sich in sieben ungleich lange Strophen, die jedoch, bis auf ein Enjambement zwischen der fünften und sechsten, untereinander abgeschlossen sind. Gerichtet ist die Hymne an Schwager Kronos: Mit dem „Schwager" - eine zeitgenössische Bezeichnung für den Kutscher - ist wohl der antike Zeitgott Chronos gemeint, der hier (wie auch schon in der römischen Antike) gleichgesetzt wurde mit dem Göttervater Kronos, der den Wagen für die Fahrt des Lebens lenkt.
Die ersten beiden Abschnitte führen in die Situation der Kutschfahrt ein. Aber schon der Eingangsvers deutet mit der Anrede des Zeitgottes auf die symbolische Bedeutung; im mythischen Bild zeigt sich die metaphorische Ebene des lyrischen Geschehens. Der erste Imperativ, „Spude dich", beinhaltet bereits die Vorstellung der Eile, zu der das lyrische Ich drängt (vgl. auch „rasch", V. 8). Der „rasselnde" (V. 2) und „holpernde" (V. 6) „Trott" (V. 2/7), den Rhythmus und Klang der Zeilen wiederholend, behindert die Fahrt. Hinzu kommt das zögernde „Haudern" (V. 5) des „Schwagers", das im lyrischen Ich „ekles Schwindeln" erregt, was als Störung empfunden wird. „Stock Wurzeln Steine" erschweren die Fahrt „bergab" (V. 3), in die Unbilden des Lebens, die die asyndetische Reihe in Vers 7 symbolisiert. Die Syntax setzt sich über Regeln der Grammatik und über logische Zusammenhänge hinweg und drückt statt dessen die Folge der subjektiven Wahrnehmung und Assoziation des Reisenden aus. Im letzten Vers der ersten Strophe wird die symbolische Bedeutung der konkreten Ausgangssituation deutlich: „in's Leben hinein!" (V. 8). Die Aufforderung, die Fahrt ,frisch" (V. 6) anzugehen, und das betonte Schlusswort „hinein!" deuten bereits vor auf den Lebensoptimismus, der sich Ende des zweiten Abschnitts ausspricht.
Der zweite Abschnitt ist antithetisch auf den ersten bezogen. Ging die Bewegung im einleitenden Versblock „bergab", so geht sie jetzt mühevoll „hinauf" (V. 11). Die stete Wiederholung des Wechsels, zugleich das Auf und Ab des Lebens, zeigt der Hinweis in
Vers 9. Aber in den beiden Schlussversen des Abschnitts antwortet das lyrische Ich dem „eratmenden Schritt" mit unveränderter Energie und fordert den „Schwager" heraus, der offenbar mit der forschen Munterkeit nicht Schritt hält („nicht träge denn!", V. 12). Es wird deutlich, dass das lyrische Ich in der Person des Reisenden sich der Fahrt - und damit der Zeit - nicht einfach unterwirft, sondern ihr gegenüber selbstbewusst und fordernd auftritt. „Strebend und hoffend an" (V. 13) fasst den Optimismus des lyrischen Subjekts begrifflich zusammen und drückt enthusiastischen Eifer, Selbstvertrauen und Zuversicht auf dem Weg „in's Leben" aus. Unterstrichen wird dies durch die zahlreichen Ellipsen in diesem Abschnitt.
In der dritten Strophe verändern sich Perspektive und Stimmung. Die Bewegung des Gedichts kommt für kurze Zeit zur Ruhe. War der Blick des lyrischen Ichs im ersten Abschnitt nach unten und im Gegensatz dazu im Zweiten nach oben gerichtet, so zeigt der einleitende Vers des dritten Abschnitts den Blick aus erhabener Höhe „Weit hoch herrlich der Blick" (V. 14), betont durch eine Alliteration. Sprachlich und inhaltlich bildet dieser Abschnitt einen lyrischen Höhepunkt. Die Ruhe des Gipfelblicks gibt der Ton der Verse wieder, die sich in ihrer metrischen Struktur von den vorangegangenen unterscheiden. Der verblose Abschnitt verzichtet auf Imperative, welche die beiden ersten Versblöcke prägen.
In der Überschau offenbart sich dem lyrischen Subjekt eine höhere Dimension, der Blick in die räumliche und zeitliche Unendlichkeit wird zur Einsicht in das Leben schlechthin. In Vers 15 wird die Schlusszeile des ersten Abschnitts variiert. Die neue Einsicht „rings ins Leben hinein" (V. 15), die die Vielfalt des menschlichen Lebens erkennen lässt, verbindet sich mit der Ahnung des Göttlichen (V. 17/18). Zur Ebene der Zeit der Kutschfahrt mit Kronos und der symbolisierten Zeit des Lebens tritt die Zeitlosigkeit. Den flüchtigen Erscheinungen des Lebens, die die beiden ersten Abschnitte implizieren, steht der „ewige" Augenblick des lyrischen Ich auf dem Gipfel gegenüber.
Der vierte Abschnitt wechselt von der weiten, in die Unendlichkeit weisenden Ferne in die konkrete Nähe. Die Rast des Reisenden greift das Grundmotiv der Kutschfahrt wieder auf. Der Eingangsvers deutet darauf hin, dass das folgende lyrische Erlebnis nicht das eigentliche Ziel der Fahrt „ins Leben" bildet, sondern „seitwärts" (V. 19) vom Weg liegt. Die Anziehungskraft (V. 20) des Ortes scheint sich zunächst nicht auf das lyrische Ich, sondern auf den „Schwager" zu beziehen (vgl. auch V. 23: „Mir auch"). Nicht nur der „Schatten", der Schutz vor der Sonne, Erholung und Kühlung schenkt, verspricht Erfrischung, sondern auch der „verheißende Gesundheitsblick" des Mädchens, der das Motiv der Liebe in die Hymne hineinbringt, verstärkt durch die Wortneuschöpfung. Die räumliche Bestimmung „auf der Schwelle" (V. 22) verweist auf das Bild des Hauses, den Ort der Ruhe im wechselnden Lauf des Lebens. Vers 23 schließt das lyrische Ich nach der Überleitung durch den Gedankenstrich in das Geschehen ein; hier findet sich der einzige Wechsel der Anrede innerhalb des Gedichts. Begleitet „Schwager Kronos" den Reisenden auf der Fahrt des Lebens, so ist es hier das „Mädchen", das dem Reisenden nach dem Moment geistiger Konzentration und einsamer Höhe einen Augenblick der freundlich-geselligen Erholung und Erfrischung gewährt.
In den folgenden Versabschnitten nimmt das lyrische Ich die rasende Lebensfahrt wieder auf. In antithetischem Bezug zum „"Auf denn" (V. 12), das dem Gipfelstreben die Richtung wies, beginnt der fünfte Abschnitt mit der Richtungsangabe "„Ab dann [...] hinab" (V. 26). Präzisiert wird das Endziel der Reise in Vers 36 („"Hölle"; „Orkus", V. 39). Die enge Bindung der symbolischen Bedeutungsebene an den Vorgang der Kutschfahrt löst sich in den drei Schlussabschnitten zunehmend; den Alterungsprozess überspringend wird der Tod visionär vorweggenommen. Er erscheint nicht als Endpunkt der Kutschfahrt, sondern als Übergang zum Jenseits.
Der fünfte und sechste Abschnitt, miteinander durch ein Enjambement verbunden, stellen diese neue Dimension der Lebensfahrt dar, die im letzten Abschnitt in der verfrühten Ankunft am Ziel gipfelt. Dass die Reise „"frischer" hinab geht, weist zurück auf die labende Erfrischung im mittleren und den Zuruf im ersten Abschnitt (V. 6/8), doch führt sie nicht mehr in die Gegenwart des diesseitigen Lebens, sondern in die Zukunft des Jenseits. Der Untergang der Leben spendenden Sonne (V. 27) symbolisiert den Übergang vom Bereich des Lebens in den des Todes, er antizipiert das Ende der Lebensfahrt, beschleunigt durch die Alliteration. Aber der Reisende unterwirft sich auch hier nicht der Führung des „Schwager Kronos", der Zeit ("„Eh' sie sinkt, eh' mich fasst", V. 28), er behält den imperativen Ton bei („"reiß mich", V. 33), erscheint aber nun im Sog der Bewegung. In rasender Fahrt geht es vorbei am Lebensabschnitt des Alters, diesen - beschrieben in einer Reihung makabrer Bilder (V. 29-31) mit Hilfe eines syntaktischen Zeugma - gleichsam überspringend.
Die bald untergehende Sonne vermag dem Blick des Reisenden noch visionäre Kraft zu verleihen. Der Reisende der Chronos-Hymne geht in vollem Selbstgefühl und mit „schäumender" Energie dem jenseitigen Leben entgegen, veranschaulicht im Bild des mythischen „Orkus". Dem ekstatischen, enthusiastischen Gefühl des Reisenden („Trunknen vom letzten Strahl", V. 32) entspricht die fehlende Klarheit des Blicks („ein Feuermeer/Mir im schäumenden Aug'", V. 33-34) im Angesicht des folgenden Ungeheuren. Blendung und Taumeln (V. 36) lassen Orientierungslosigkeit und Unsicherheit ahnen. Vers 36 benennt das Ziel der Reise: Die Lebensfahrt wird zur Reise in den Tod, wobei dieser jedoch nur als Durchgang erscheint („der Hölle nächtliches Tor!").
Der letzte Abschnitt zeigt den Reisenden in seinem maßlos übersteigerten Selbstwertgefühl. Der einleitende Imperativ weist zurück auf den Anfangsvers der Hymne: Der Befehl richtet sich an Schwager Kronos, doch wird dieser nicht mehr namentlich, wie noch zu Beginn des Gedichts, sondern nur mit seinem Titel angeredet („"Schwager", V. 37). Damit wird seine Funktion auf die des Wagenlenkers reduziert. Lautstark und selbstbewusst soll er die Ankunft in der Unterwelt akustisch ankündigen (V. 37/38). Die stolze Selbstbehauptung des Reisenden gegenüber Chronos, der Zeit, setzt sich fort gegenüber den Göttern, den "„Gewaltigen" des „"Orkus". Die letzten Verse des Gedichts zeigen das lyrische Subjekt auf dem Gipfel des Selbstbewusstseins, typisch für die Sturm- und Drang Zeit.
Das Erlebnisgedicht über eine Kutschfahrt, gedeutet als Lebensfahrt, erweist sich als eine Hymne an das Leben, dessen natürliche Begrenzung im Tod als Übergang aufgehoben wird. Noch im Angesicht des Todes zeigt sich die titanische Selbstbehauptung des lyrischen Ichs, das menschliche Begrenztheit negieren will. Alle diese Merkmale waren typisch für diese Epoche, genauso wie die Wahl der äußeren Form. Goethe hat mit diesem Gedicht ein Paradebeispiel für den Sturm und Drang geliefert.
Wenn man sich an die Gelegenheit der Entstehung des Gedichts erinnert, bei der Rückfahrt Goethes von Darmstadt, so ließe sich die Fahrt des Lebens auch als Rückblick des Dichters auf sein eigenes Leben und als Vorwegnahme seiner künstlerischen Zukunft deuten. Das Selbstbewusstsein des lyrischen Subjekts, besonders im Schlussabschnitt erkennbar, wäre auf der Ebene einer solchen Deutung als dichterisches zu interpretieren, das die Selbstbehauptung gegenüber der Tradition - wie sie die Sturm- und Drang- Generation kennzeichnet -, vielleicht sogar einen Hinweis auf den „Dichterfürsten" Klopstock umfasst.
Der kraftgenialistische Duktus der Sturm und Drang Zeit prägt die eindrucksvolle sprachliche Gestaltung der Hymne, deren Rhythmus bestimmt wird durch eine eigenwillige Syntax der freimetrischen Verse, durch asyndetische Reihungen und Inversionen, Apostrophen, Ellipsen, Imperative und zahlreiche Wortverkürzungen. Im Stil der Hymne wiederspiegelt sich das Verlangen der „Stürmer und Dränger", die durch Tradition und Konvention vorgegebene Schranke zu durchbrechen. Verwirklicht wird es durch die symbolische Überhöhung. Die enorme Begeisterung Goethes, die in dem Gedicht deutlich wird, lässt sich mit dem Besuch Kloppstocks erklären.
Das metrisch ungebundene Gedicht, welches keinem Reimschema folgt, gliedert sich in sieben ungleich lange Strophen, die jedoch, bis auf ein Enjambement zwischen der fünften und sechsten, untereinander abgeschlossen sind. Gerichtet ist die Hymne an Schwager Kronos: Mit dem „Schwager" - eine zeitgenössische Bezeichnung für den Kutscher - ist wohl der antike Zeitgott Chronos gemeint, der hier (wie auch schon in der römischen Antike) gleichgesetzt wurde mit dem Göttervater Kronos, der den Wagen für die Fahrt des Lebens lenkt.
Die ersten beiden Abschnitte führen in die Situation der Kutschfahrt ein. Aber schon der Eingangsvers deutet mit der Anrede des Zeitgottes auf die symbolische Bedeutung; im mythischen Bild zeigt sich die metaphorische Ebene des lyrischen Geschehens. Der erste Imperativ, „Spude dich", beinhaltet bereits die Vorstellung der Eile, zu der das lyrische Ich drängt (vgl. auch „rasch", V. 8). Der „rasselnde" (V. 2) und „holpernde" (V. 6) „Trott" (V. 2/7), den Rhythmus und Klang der Zeilen wiederholend, behindert die Fahrt. Hinzu kommt das zögernde „Haudern" (V. 5) des „Schwagers", das im lyrischen Ich „ekles Schwindeln" erregt, was als Störung empfunden wird. „Stock Wurzeln Steine" erschweren die Fahrt „bergab" (V. 3), in die Unbilden des Lebens, die die asyndetische Reihe in Vers 7 symbolisiert. Die Syntax setzt sich über Regeln der Grammatik und über logische Zusammenhänge hinweg und drückt statt dessen die Folge der subjektiven Wahrnehmung und Assoziation des Reisenden aus. Im letzten Vers der ersten Strophe wird die symbolische Bedeutung der konkreten Ausgangssituation deutlich: „in's Leben hinein!" (V. 8). Die Aufforderung, die Fahrt ,frisch" (V. 6) anzugehen, und das betonte Schlusswort „hinein!" deuten bereits vor auf den Lebensoptimismus, der sich Ende des zweiten Abschnitts ausspricht.
Der zweite Abschnitt ist antithetisch auf den ersten bezogen. Ging die Bewegung im einleitenden Versblock „bergab", so geht sie jetzt mühevoll „hinauf" (V. 11). Die stete Wiederholung des Wechsels, zugleich das Auf und Ab des Lebens, zeigt der Hinweis in
Vers 9. Aber in den beiden Schlussversen des Abschnitts antwortet das lyrische Ich dem „eratmenden Schritt" mit unveränderter Energie und fordert den „Schwager" heraus, der offenbar mit der forschen Munterkeit nicht Schritt hält („nicht träge denn!", V. 12). Es wird deutlich, dass das lyrische Ich in der Person des Reisenden sich der Fahrt - und damit der Zeit - nicht einfach unterwirft, sondern ihr gegenüber selbstbewusst und fordernd auftritt. „Strebend und hoffend an" (V. 13) fasst den Optimismus des lyrischen Subjekts begrifflich zusammen und drückt enthusiastischen Eifer, Selbstvertrauen und Zuversicht auf dem Weg „in's Leben" aus. Unterstrichen wird dies durch die zahlreichen Ellipsen in diesem Abschnitt.
In der dritten Strophe verändern sich Perspektive und Stimmung. Die Bewegung des Gedichts kommt für kurze Zeit zur Ruhe. War der Blick des lyrischen Ichs im ersten Abschnitt nach unten und im Gegensatz dazu im Zweiten nach oben gerichtet, so zeigt der einleitende Vers des dritten Abschnitts den Blick aus erhabener Höhe „Weit hoch herrlich der Blick" (V. 14), betont durch eine Alliteration. Sprachlich und inhaltlich bildet dieser Abschnitt einen lyrischen Höhepunkt. Die Ruhe des Gipfelblicks gibt der Ton der Verse wieder, die sich in ihrer metrischen Struktur von den vorangegangenen unterscheiden. Der verblose Abschnitt verzichtet auf Imperative, welche die beiden ersten Versblöcke prägen.
In der Überschau offenbart sich dem lyrischen Subjekt eine höhere Dimension, der Blick in die räumliche und zeitliche Unendlichkeit wird zur Einsicht in das Leben schlechthin. In Vers 15 wird die Schlusszeile des ersten Abschnitts variiert. Die neue Einsicht „rings ins Leben hinein" (V. 15), die die Vielfalt des menschlichen Lebens erkennen lässt, verbindet sich mit der Ahnung des Göttlichen (V. 17/18). Zur Ebene der Zeit der Kutschfahrt mit Kronos und der symbolisierten Zeit des Lebens tritt die Zeitlosigkeit. Den flüchtigen Erscheinungen des Lebens, die die beiden ersten Abschnitte implizieren, steht der „ewige" Augenblick des lyrischen Ich auf dem Gipfel gegenüber.
Der vierte Abschnitt wechselt von der weiten, in die Unendlichkeit weisenden Ferne in die konkrete Nähe. Die Rast des Reisenden greift das Grundmotiv der Kutschfahrt wieder auf. Der Eingangsvers deutet darauf hin, dass das folgende lyrische Erlebnis nicht das eigentliche Ziel der Fahrt „ins Leben" bildet, sondern „seitwärts" (V. 19) vom Weg liegt. Die Anziehungskraft (V. 20) des Ortes scheint sich zunächst nicht auf das lyrische Ich, sondern auf den „Schwager" zu beziehen (vgl. auch V. 23: „Mir auch"). Nicht nur der „Schatten", der Schutz vor der Sonne, Erholung und Kühlung schenkt, verspricht Erfrischung, sondern auch der „verheißende Gesundheitsblick" des Mädchens, der das Motiv der Liebe in die Hymne hineinbringt, verstärkt durch die Wortneuschöpfung. Die räumliche Bestimmung „auf der Schwelle" (V. 22) verweist auf das Bild des Hauses, den Ort der Ruhe im wechselnden Lauf des Lebens. Vers 23 schließt das lyrische Ich nach der Überleitung durch den Gedankenstrich in das Geschehen ein; hier findet sich der einzige Wechsel der Anrede innerhalb des Gedichts. Begleitet „Schwager Kronos" den Reisenden auf der Fahrt des Lebens, so ist es hier das „Mädchen", das dem Reisenden nach dem Moment geistiger Konzentration und einsamer Höhe einen Augenblick der freundlich-geselligen Erholung und Erfrischung gewährt.
In den folgenden Versabschnitten nimmt das lyrische Ich die rasende Lebensfahrt wieder auf. In antithetischem Bezug zum „"Auf denn" (V. 12), das dem Gipfelstreben die Richtung wies, beginnt der fünfte Abschnitt mit der Richtungsangabe "„Ab dann [...] hinab" (V. 26). Präzisiert wird das Endziel der Reise in Vers 36 („"Hölle"; „Orkus", V. 39). Die enge Bindung der symbolischen Bedeutungsebene an den Vorgang der Kutschfahrt löst sich in den drei Schlussabschnitten zunehmend; den Alterungsprozess überspringend wird der Tod visionär vorweggenommen. Er erscheint nicht als Endpunkt der Kutschfahrt, sondern als Übergang zum Jenseits.
Der fünfte und sechste Abschnitt, miteinander durch ein Enjambement verbunden, stellen diese neue Dimension der Lebensfahrt dar, die im letzten Abschnitt in der verfrühten Ankunft am Ziel gipfelt. Dass die Reise „"frischer" hinab geht, weist zurück auf die labende Erfrischung im mittleren und den Zuruf im ersten Abschnitt (V. 6/8), doch führt sie nicht mehr in die Gegenwart des diesseitigen Lebens, sondern in die Zukunft des Jenseits. Der Untergang der Leben spendenden Sonne (V. 27) symbolisiert den Übergang vom Bereich des Lebens in den des Todes, er antizipiert das Ende der Lebensfahrt, beschleunigt durch die Alliteration. Aber der Reisende unterwirft sich auch hier nicht der Führung des „Schwager Kronos", der Zeit ("„Eh' sie sinkt, eh' mich fasst", V. 28), er behält den imperativen Ton bei („"reiß mich", V. 33), erscheint aber nun im Sog der Bewegung. In rasender Fahrt geht es vorbei am Lebensabschnitt des Alters, diesen - beschrieben in einer Reihung makabrer Bilder (V. 29-31) mit Hilfe eines syntaktischen Zeugma - gleichsam überspringend.
Die bald untergehende Sonne vermag dem Blick des Reisenden noch visionäre Kraft zu verleihen. Der Reisende der Chronos-Hymne geht in vollem Selbstgefühl und mit „schäumender" Energie dem jenseitigen Leben entgegen, veranschaulicht im Bild des mythischen „Orkus". Dem ekstatischen, enthusiastischen Gefühl des Reisenden („Trunknen vom letzten Strahl", V. 32) entspricht die fehlende Klarheit des Blicks („ein Feuermeer/Mir im schäumenden Aug'", V. 33-34) im Angesicht des folgenden Ungeheuren. Blendung und Taumeln (V. 36) lassen Orientierungslosigkeit und Unsicherheit ahnen. Vers 36 benennt das Ziel der Reise: Die Lebensfahrt wird zur Reise in den Tod, wobei dieser jedoch nur als Durchgang erscheint („der Hölle nächtliches Tor!").
Der letzte Abschnitt zeigt den Reisenden in seinem maßlos übersteigerten Selbstwertgefühl. Der einleitende Imperativ weist zurück auf den Anfangsvers der Hymne: Der Befehl richtet sich an Schwager Kronos, doch wird dieser nicht mehr namentlich, wie noch zu Beginn des Gedichts, sondern nur mit seinem Titel angeredet („"Schwager", V. 37). Damit wird seine Funktion auf die des Wagenlenkers reduziert. Lautstark und selbstbewusst soll er die Ankunft in der Unterwelt akustisch ankündigen (V. 37/38). Die stolze Selbstbehauptung des Reisenden gegenüber Chronos, der Zeit, setzt sich fort gegenüber den Göttern, den "„Gewaltigen" des „"Orkus". Die letzten Verse des Gedichts zeigen das lyrische Subjekt auf dem Gipfel des Selbstbewusstseins, typisch für die Sturm- und Drang Zeit.
Das Erlebnisgedicht über eine Kutschfahrt, gedeutet als Lebensfahrt, erweist sich als eine Hymne an das Leben, dessen natürliche Begrenzung im Tod als Übergang aufgehoben wird. Noch im Angesicht des Todes zeigt sich die titanische Selbstbehauptung des lyrischen Ichs, das menschliche Begrenztheit negieren will. Alle diese Merkmale waren typisch für diese Epoche, genauso wie die Wahl der äußeren Form. Goethe hat mit diesem Gedicht ein Paradebeispiel für den Sturm und Drang geliefert.
Wenn man sich an die Gelegenheit der Entstehung des Gedichts erinnert, bei der Rückfahrt Goethes von Darmstadt, so ließe sich die Fahrt des Lebens auch als Rückblick des Dichters auf sein eigenes Leben und als Vorwegnahme seiner künstlerischen Zukunft deuten. Das Selbstbewusstsein des lyrischen Subjekts, besonders im Schlussabschnitt erkennbar, wäre auf der Ebene einer solchen Deutung als dichterisches zu interpretieren, das die Selbstbehauptung gegenüber der Tradition - wie sie die Sturm- und Drang- Generation kennzeichnet -, vielleicht sogar einen Hinweis auf den „Dichterfürsten" Klopstock umfasst.
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Eine sehr detaillierte Analyse / Interpretation des Gedichtes "An Schwager Kronos" (In der Postchaise) von Johann Wolfgang von Goethe mit allem, was dazu gehört (Zitate, Stilmittel, ...) (1660 Wörter)
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