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Gedichtsinterpretation Alfred Wolfenstein - "Städter"

Alles zu Alfred Wolfenstein  - Städter

Alfred Wolfenstein - Städter ["punktuelle Vorgehensweise"]


Anfang des 20. Jahrhunderts machten sich die Auswirkungen der Industrialisierung in Deutschland deutlich bemerkbar. Es entstanden industrielle Ballungszentren, wie etwa im Ruhrgebiet; und auch in der Reichshauptstadt selbst vervielfachte sich die Einwohnerzahl binnen weniger Jahrzehnte. In der Phase der Hochindustrialisierung und -rüstung für den schon lange vorbereiteten Krieg waren die Städte, allen voran Berlin, Zentrum jener Entwicklungen.

Diese Stadt musste vielen als ein regelrechtes "Babylon" erscheinen, wo die Sitten verfielen und ganze Familien sich in einzeln vermieteten Zimmern drängten. Die daraus resultierende Entfremdung von den Mitmenschen ist ein Thema des Gedichts. Bei der immer weiter voranschreitenden räumlichen Annäherung vergrößert sich paradoxerweise gleichzeitig die Distanz zwischen den Menschen.

Die erwähnte Verringerung der Distanz findet in erster Linie aufgrund der Raumnot physikalisch statt. Doch auch sie hat auch Auswirkungen auf die Psyche, welche im ersten Terzett thematisiert werden. Die Zimmerwände werden als so "dünn wie Haut" empfunden; sie können ihre vielleicht wichtigste Aufgabe, den Schutz der Privatsphäre, nicht mehr erfüllen. Vielmehr gleichen sie einer Membran, durchlässig für alles Gesprochene, Geflüsterte, ja sogar Gedachte (1). Doch auch wenn damit "ein jeder" (2) an den intimsten Angelegenheiten seines Nachbarn "teilnimmt" (3), so ist er doch nicht im Stande, ihn zu verstehen.

Die Sinnlosigkeit und Absurdität einzeln vernommener Wörter und Sätze verkehrt stattdessen den Charakter eines geflüsterten Wortes in sein Gegenteil, als aggressives "Gegröle" (4) muss es dem unfreiwilligen Hörer erscheinen. In dieser Empfindung manifestiert sich die oben erwähnte "Vergrößerung der Distanz zwischen den Menschen". Aber Wolfenstein geht noch weiter. Für ihn bedeutet die innere Emigration die letzte, aber zwangsläufige Konsequenz dieser unerwünschten "Nähe". Dabei stellt er, generalisierend, "jede[s]" (5) Subjekt als "ganz unangerührt und ungeschaut" (6), also als isoliert und unfähig zu kommunizieren, dar.

Bei der Ausführung des Paradoxons von gleichzeitiger Nähe und Distanz folgen Form und Reimschema dem Inhalt: Die erste Zeile des ersten Terzetts ("Unsre Wände sind so dünn wie Haut") reimt sich auf die zweite Zeile des zweiten Terzetts ("Ganz unangerührt und ungeschaut"). Dabei findet das Substantiv "Wand" seine adjektivische Ergänzung in "ungeschaut" - eine Wand dient u.a. zum Sichtschutz - und das Substantiv "Haut" seine Ergänzung in "unangerührt". Wolfenstein arbeitet hier kunstvoll mit den Konnotationen der Substantive. Die Haut eines Menschen ist nämlich gleichermaßen Schutz vor der, als auch "Schnitt-" oder "Kontaktstelle" zur Außenwelt. Ihre Berührung, mit Ausnahme vielleicht der der Hände, durch einen anderen Menschen, bleibt einem kleinsten und intimsten Personenkreis vorbehalten. Die beiden Adjektive beziehen sich hierbei chiastisch auf die ihnen jeweils konnotativ zugeordneten Subjekte, was den kompositorischen Anspruch der Sonettform zusätzlich zur Geltung bringt.

Auch die Schilderung der Großstadt als solcher - wie sie vom Individuum, also vom Dichter, wahrgenommen wird - lohnt, einer eingehenderen Betrachtung unterzogen zu werden. Formal betrachtet, findet sie in den beiden Quartetten statt.

Auffällig hierbei ist zunächst die Häufung des Adverbials "dicht" (7). Doch allein durch diese Anapher würde die Beklemmung, die den Menschen angesichts der als grauenvoll erlebten Enge der Stadt befällt, nicht deutlich genug werden. Wolfenstein entwirft ein der allgemein vorherrschenden Vorstellung von der modernen Großstadt als einer belebten, pulsierenden Metropole, ein diametral entgegen gesetztes Bild. Trotz aller geschäftigen Betriebsamkeit stagniert dort in Wahrheit das Leben. Dies lässt sich schon formal an der Verwendung vieler, im weitesten Sinne "statischer" Ausdrücke, wie "stehn" (8), "hineingehakt" (9) oder "sitzen" (10), erkennen.

Enge und Stagnation sind aber natürlich auch inhaltlich Thema. Das erste Quartett etwa gipfelt in der Metapher, dass "...die Straßen / Grau geschwollen wie Gewürgte stehn" (11). Die Alliteration verstärkt noch den ohnehin starken Eindruck, den dieses durch Personifizierung der Straßen entstandene Bild auf den Leser macht. Der politische Stillstand am Ende der wilhelminischen Ära musste auf einen Menschen wie Wolfenstein so beengend gewirkt haben, dass man diesen Ausdruck durchaus auch als Chiffre für eine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen verstehen kann.

Die erwähnte Stagnation, sei sie nun allgemein-politisch, gesellschaftlich oder bloß städtebaulich begründet, ist so vollkommen, dass sie bis zum Tod führen kann. "Grau geschwollen[e]" (11) Gesichter sieht man nämlich meistens bei Erhängten - bei zum Tode "Gewürgte[n]" (11). Die Straßen gleichen Stricken, die sich in das Fleisch der Menschen schneiden. Interessant ist hier ein Vergleich mit einer Metapher Heyms für die Straßen der Großstadt, der sie in seinem Gedicht "Die Stadt" als "Aderwerk" (12) bezeichnet.

Wolfenstein ist aber nicht nur daran gelegen, die Stadt als solche und ihre Auswirkungen auf die Bewohner darzustellen.
Die mit der Entfremdung von den Mitmenschen einhergehende Entartung der menschlichen Natur wird von Wolfenstein mittels einer radikalen Entpersonifizierung der sich gegenüber sitzenden Tramfahrer geschildert. Diese werden nämlich als bloße "zwei Fassaden / Leute" (13) dargestellt. Die "Leute" (14) sind sich fremd, doch dies bewahrt sie nicht vor den aufdringlichen "Blicke[n].../...ohne Scheu..." (14), denen sie durch ihre Nachbarn ausgesetzt sind.

Schon der Titel des Gedichts, "Städter", gibt einen deutlichen Hinweis, worauf die Aussage des Gedichtes in erster Linie zielt: Es zeichnet ein Bild von der Situation des "modernen Menschen", dem Bewohner der Großstadt, dem Angehörigen des im Entstehen begriffenen städtischen Proletariats. Marxisten sahen jenes als die Klasse an, auf die sich alle Hoffnung konzentrierte - für einige Anhänger der expressionistischen Bewegung hingegen verkörperten sie die Deformierung des Menschen, seine Kapitulation vor der Maschine und der empfundenen Perspektivlosigkeit der "modernen" Welt.

Auf den ersten Blick scheint es so, als mache Wolfenstein sich zum Fürsprecher dieser unterdrückten und vereinsamten Bevölkerung. Dieser Eindruck kann sich allerdings bei einer eingehenderen Betrachtung schnell relativieren.
Die Häuser der Stadt werden in gewisser Weise personifiziert, wenn sie sich "drängend fassen" (15). Ihre Fenster jedoch werden mit den "Löcher[n] eines Siebes" (16) verglichen. Nicht nur durch die Fassaden-Metapher, auch durch diesen Vergleich werden Menschen depersonifiziert und ihrer Persönlichkeit beraubt. Man könnte argumentieren, dass dies genau das sei, was der Autor mit seinem Werk ausdrücken wollte: Die Anonymisierung des Menschen in der Großstadt, seine Ein- und Unterordnung und letztlich die Preisgabe seiner Individualität.

Auf der anderen Seite stellt sich dann die Frage, warum Wolfenstein, was die Schilderung seiner Mitmenschen anbelangt, so oberflächlich bleibt. Die Tatsache, dass die Fenster, hinter denen Menschen wohnen, die nach der oben erwähnten These ja genauso empfinden müssten, vom lyrischen Ich lediglich als "Löcher eines Siebes"(16) reflektiert werden, bezeugt die Subjektivität, mit der die Stadt und ihre Einwohner gesehen werden. Diese Subjektivität ist Wolfenstein nicht vorzuwerfen - er ist in erster Linie Lyriker. Aber dass er ihr in diesem hohen Maße verhaftet bleibt, steht der Entwicklung einer positiven Perspektive im Wege. Diese müsste ja gar nicht positivistisch-utopisch sein, sondern könnte etwa eine im Verständnis für den Mitmenschen begründete Solidarität sein. Die Erkenntnis, dass "jeder [sich] fern und [...] alleine""fühlt"(17), würde dafür Grundlage sein. Diese Erkenntnis hat der Autor zwar gewonnen und sie quasi als "Resümee" in die letzte Zeile des Sonetts eingebettet, doch bleibt er unfähig, sie im obigen Sinne umzusetzen.

Fußnoten

["punktuelle Vorgehensweise"]

1. erstes Terzett, dritte Zeile
2. erstes Terzett, zweite Zeile
3. ebenda
4. erstes Terzett, dritte Zeile
5. zweites Terzett, dritte Zeile
6. zweites Terzett, zweite Zeile
7. erstes Quartett, erste Zeile, dritte Zeile; zweites Quartett, erste Zeile
8. erstes Quartett, erste Zeile
9. zweites Quartett, erste Zeile
10. zweites Quartett, zweite Zeile
11. erstes Terzett, vierte Zeile
12. Georg Heym - "Die Stadt", zweites Quartett, erste Zeile. Siehe Arbeitsblatt.
13. zweites Quartett, zweite und dritte Zeile
14. zweites Quartett, dritte Zeile
15. erstes Quartett, zweite Zeile
16. erstes Quartett, erste Zeile
17. zweites Quartett, vierte Zeile
Inhalt
Eine Interpretation von Wolfensteins "Städter", jedoch keine "klassische". d.h. das Gedicht wurde in einem größeren Kontext betrachtet und nur punktuell einzelne Stellen interpretiert. (1254 Wörter)
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