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Übersetzung: Baby-sitter blues von Aude-Murail

Alles zu Murail, Marie-Aude  - Babysitter-blues

Baby-Sitter Blues - Übersetzung

M A R I E - A U D E M U R A I L

Baby-sitter blues


Als ich das erste Mal den Videorekorder von Xavier Richard gesehen habe, wusste ich, dass ich auch einen brauche.

"Sonst noch was?", sagte meine Mutter: "Na Klasse, Videokassetten. Richard hat eine ganze Videothek. Nichts als Horrorfilme."
"Das ist ja sehr intelligent!"

Ich habe ihr nie von anderen Filmen erzählt. Sogar die Eltern von Xavier wissen nichts davon.

"Und das ist nur der Videorecorder von Richard, weil es in der Familie noch einen Besseren gibt, vermute ich."
"Hör gut zu, wenn man schon "Richard" heißt, wundert es mich kaum. Sein Kinderwagen wird wahrscheinlich mit einem Rolls-Royce durch die Gegend gefahren?"

Meine Mutter war mal wieder aufgeregt und lief wie wild in der Küche hin und her. Ich weiß, dass ich sie mit dem andauernden Verlangen nach irgendetwas nerve. Aber mit hundert Mäusen Taschengeld pro Monat bin ich nun mal der Ärmste in der ganzen Schule.

"Und ich rede noch nicht einmal von der Inflation.", dachte ich leise hinter ihrem Rücken.

Meine Mutter drehte sich langsam um. Ich kann nicht sagen wieso, aber von Zeit zu Zeit, wenn meine Mutter mal wieder nach einem cholerischen Anfall aussieht, zieh ich mich immer etwas zurück. Jedoch lasse ich mich auch nicht unterkriegen. Ich habe schließlich fast dieselbe Kragenweite, wie sie.

"Da du ja nun offensichtlich Geld brauchst frage ich mich, warum du dir nicht welches verdienst?"
"Oh, nein danke, oder meinst du, mir gibt jemand hundert Piepen dafür, dass ich den Mülleimer lehre?"
"Ich dachte da an eine Arbeit, wie die von Martine-Marie", schlug mir meine Mutter vor. Sie ist Babysitterin.

Martine-Marie ist das Patenkind meiner Mutter. Sie ist ein Engel; geschickt vom Himmel. Eines Tages werden ihr Flügel wachsen.

"Gibt es denn EINEN Babysitter überhaupt?" fragte ich.
Meine Mutter antwortete: "Wenn es das nicht geben sollte, müssen wir dich eben neu einkleiden."

Meine Mutter arbeitet eben in der Mode. "Ein" Babysitter kostet in Montigny (wo ich wohne) ungefähr 20 Francs pro Stunde. Ein Videorecorder wie der von Richard kostet 5520 Francs. Also 5520 : 20 macht 276 Stunden Babysitten, bis ich mir meinen Videorecorder kaufen könnte. Aber am Montag kann ich nicht babysitten, weil ich in den Cine-Club gehen möchte, am Dienstag muss ich zu früh aufstehen, am Samstag möchte mich meine Mutter sehen, und am Sonntag spiele ich zweimal im Monat Volleyball. Wenn ich mir das so überlege, werde ich meine ersten Videokassetten wohl erst sehen, wenn ich in Rente gehe.

"Wenn du 2000 Francs alleine verdienst", sagte Mutter: "bezahle ich den Rest."

Also 2000 : 20, dass macht 100 Stunden. Und wenn ich acht Stunden in der Woche schaffe, nach wie viel Wochen werde ich …
Lassen wir diese Rechnung, das nervt nur wieder Mutter, und machen wir uns ans Telefonieren mit Martine-Marie. Sie hat schließlich hunderte Adressen.
Und so hat alles begonnen.

- II -

Mein erstes Babysitten machte ich bei Madame Jacqueline Grumeau. Sie machte sich auf einmal ziemlich schlank, als sie mich vor ihrer Tür sah.

"Sie sind … Sie sind der, der für Martine-Marie kommt, oder?"

Ich nickte.

"Seit ihr verwand?"

Ich spürte, dass es ihr gefallen würde, wenn Martine-Marie und ich Cousins wären. Wenn man nun mal mit einem Engel verwand ist, hat man schon mal eine Empfehlung vorweg.

"Aha! Das überrascht mich aber nun doch. Ich wusste nicht, dass die Mutter von Martine-Marie eine Schwester hat."
"Eine Zwillingsschwester.", präzisierte ich, um der Sache das Sahnehäubchen aufzusetzen.
"Na dann denk ich mal, dass sie und Martine-Marie sich sehr ähneln. Also hereinspaziert."

Madame Jacqueline Grumeau hat zwei Töchter: Anne-Sophie (sieben Jahre) und Anne-Laure (5Jahre).
"Sie müssen um acht Uhr dreißig ins Bett.", erklärte mir ihre Mutter: "Man muss Anne-Sophies Lampe anmachen und Anne-Laure braucht ein Glas Wasser neben ihrem Bett. Ich gebe ihnen die Telefonnummer vom Krankenhaus, der Polizei, der Feuerwehr und dem Notarztwagen."

Ich hatte das Gefühl, dass mir Madame Grumeau nicht vertraute.

"Machen sie sich keine Sorgen.", sagte ich in einem professionellen Tonfall, den ich mir manchmal zur Gewohnheit machte.
"Haben sie schon mal Babysitten gemacht?", fragte mich Madame Grumeau.

Okay, nur noch eine kleine Lüge, die Letzte, wohl vermerkt:

"Ich habe oft auf Ludovic aufgepasst."
"Ludovic?"
"Das ist mein Cousin. Er ist vier Jahre alt."
"Ach wirklich? Martine-Marie hat also noch einen kleinen Bruder?"
"Nein, das ist der Sohn eines Bruders meiner Mutter."

Madame Grumeau war glücklich. Sie war nun auf den Weltmeister im Babysitten gestoßen.
Ihre Töchter sahen weniger zufrieden aus. Anne-Sophie schaute mich von unten her an.

"Du bist der, der auf uns aufpasst?"
Anne-Laure fing an zu weinen: "Ich mag dich nicht! Ich möchte wieder Martine-Marie! Jawohl!"

Wenn es etwas gibt, was ich nicht ertragen kann, dann sind es plärrende Kinder.

"Bitte, sei still! Oh bitte gib doch endlich Ruhe!"

Ich habe sie ein wenig geschüttelt, um sie zum Schweigen zu bringen.

Sie fing an zu schreien: "Du bist gemein! Ich möchte zu meiner Mama!"

Ich schaute die Nummern durch, die Madame Grumeau mir zurück gelassen hatte. Sollte ich die Feuerwehr alarmieren? Ah, da kam mir eine Idee:

"Wenn du nicht sofort Ruhe gibst, rufe ich die Polizei! Deine Mutter hat mir die Telefonnummer gegeben."
"Das geht doch gar nicht.", murmelte Anne-Laure beeindruckt.

Ouf, die Krise war überstanden.

"Und jetzt werden wir schlafen gehen!", verkündete ich fröhlich.
"Und was ist mit einer Geschichte?", fragte mich Anne-Sophie.
"Was für eine Geschichte?"
"Martine-Marie hat uns immer eine Geschichte erzählt. Das ist die Geschichte vom kleinen grünen Hasen, der seine Eltern verloren hat."
"Er heißt Perlin-der-Hase.", fügte Anne-Laure hinzu.
"Überhaupt nicht!", sagte ich: "Ich kenne die Geschichte. Der Hase heißt Ranflanflan-des-Epinettes. Sein Todfeind ist Tartempion-les-belles-Mirettes. Und seine Eltern? Ranflanflan braucht sich nicht die Mühe zu machen, sie zu suchen: Sie sind in den Urlaub in den Club Méditerranée gefahren."
"Aber sie werden doch zurück kommen?" fragte Anne-Laure beunruhigt.
"Am Ende der Woche, mit dem Zug um 12 Uhr 07!", antwortete ich: "Falls du noch nie braun gebrannte Hasen gesehen haben solltest, könntest du ja am
Bahnhof warten."
"Und Tartempion-les-belles-Mirettes, ist er böse?", fragte mich Anne Sophie. "Sehr!"
"Wie böse"
"So böse wie ein Wolf, ein Menschenfresser! Ah! Ah! Ah!"

Es kam, wie es kommen musste, nach zwei Stunden saß ich immer noch da und erzählte von diesem bescheuertem Ranflanflan und seinem erklärten Feind.

"Kennst du noch weitere, andere Geschichten von Ranflanflan?", fragte mich Anne-Laure beim einschlafen.
"Mindestens dreitausend Stück."
"Du wirst sie uns alle erzählen, oder?"
"Alle"

Ich fand gerade noch genug Zeit um zu sagen, dass ich niemals Vater einer Familie werden würde, bevor ich erschöpft auf dem Teppichboden einschlief.

- III -

Madame Jaqueline Grumeau hatte mich sehr schnell an all ihre Freundinnen empfohlen, so sehr waren ihre Töchter von mir begeistert. Das gleiche galt für meinen zweiten Abend als Babysitter, als ich an der Tür von Madame Durieux klingelte. Zu ihr ging ich damals das erste Mal.
Ein junges Mädchen kam zur Tür und öffnete mir.

"Ich bin der Babysitter.", stellte ich mich vor: "Ich würde gerne Madame Durieux sehen."

Sie schaute mich mit großen Augen an.

"Fein, das bin ich."
"Ah gut. Ich habe sie für ihre Tochter gehalten."

Madame Durieux lachte ein wenig gezwungen. Sie schien nicht viel auf dem Kasten zu haben.

"Ich gehe ins Kino mit meinem Mann.", sagte sie mir, während sie ihre kleine Tasche nahm.

Sie wollte die Tür gerade hinter sich schließen, als ich sie noch zurück rief:

"Aber … wo sind den die Kleinen?"
"Anthony?", fragte Madame Durieux erstaunt: "Oh, der schläft. Mit 6 Monaten schläft man die ganze Zeit."
"Gut, und die Telefonnummer der Feuerwehr, des Krankenhauses, und so weiter?"

Die arme Madame Durieux öffnete ihren Mund genauso weit, wie ihre Augen. Sie hatte nicht wirklich verstanden, was ich sagen wollte.

"Ich habe die Nummer vom Taxistand.", sagte sie schließlich.
"Na toll", antwortete ich: "soll ich mir also erst ein Taxi nehmen um die Feuerwehr zu benachrichtigen, wenn das Haus brennt?"

Sie hatte wohl nur einen Hauch von Intelligenz in den Augen:
"Du bist ja ein Spaßvogel!", warf sie mir rüber: "Entschuldige mich, ich bin spät dran."

Und Schwups! Sie hatte die Tür hinter mir geschlossen. Ich schaute mich ein wenig um. Was für ein Basar! Überall Möbel, Blumen und Früchte aus Plastik, ein falscher Holzscheit im Kamin mit einem rotem Licht, damit man glaubt, es brenne dort ein Feuer … ekelhaft. Ich schmiss mich aufs Sofa.

"Gut, wenigstens gibt’s hier Fernsehen.", sagte ich zu mir selbst, um die Stimmung etwas anzuheben.

Immerhin gab es kein Ranflanflan im Abendprogramm. Ich schaltete den Fernseher ein. Es lief "Frankreich" gegen "UdSSR". Besser als nichts. Alle zehn Minuten stand es immer noch 0 : 0, aber ich glaubte einen kleinen Aufschrei aus dem Zimmer von Anthony zu vernehmen.

"Ich muss mich geirrt haben.", murmelte ich zu mir selbst.

Aber der kleine Schrei verwandelte sich plötzlich in ein großes, sehr großes Brüllen. Der kleine Schreihals! Das Kind wird ersticken, weil es sein Kopfkissen gefressen hat. Doch, Doch, so musste es sein. Ich rannte also ins Zimmer, schaltete das Licht an und nahm den Kleinen aus seinem Bett. Zuerst schüttelte ich ihn bis sein Kopf herunter hing. Als ich seinen Kopf wieder hochklappte, weinte er nicht mehr. Er schaute mich an, die Augen und den Mund weit geöffnet.

"Na mein kleiner Bär, wie geht’s dir?", fragte ich ihn, der immer noch am ganzen Körper zitterte.

Und siehe da, die Katastrophe, er fing wieder an zu schreien.

Als erstes dachte ich: "Warum kann er nicht im Bett schlafen und mich schnell verschwinden lassen?"

Und da schoss mir eine Idee durch den Kopf. Um Babys zum einschlafen zu bringen, singt man ihnen ein Wiegenlied.

Mal sehen, ein Wiegenlied.", murmelte ich, während ich den Bengel schüttelte: "Ähm … Ah ja, jenes, welches mir meine Mutter immer vorgesungen hatte."

Ich glaube, dass ich niemals am Abend einschlafen wollte, als ich zwei Monate alt warte. Ich hatte oft Durchfall. Persönlich kann ich mich daran aber nicht mehr erinnern. Aber meine Mutter hatte mir erzählt, dass sie mir in diesen Stunden mir immer dieses poetische Schlaflied gesungen hat:

« Qui a vu dans la nue le petit ver de terre,
Qui a vu dans la nue le petit ver tout nu ? »

("Wer hat im Nebel gesehen, den kleinen Regenwurm,
Wer hat im Nebel gesehen, den kleinen Wurm, ganz nackt")

Ich warne euch, es gibt keine Antwort auf diese Frage. Nach zehn Minuten fragte mich meine melodische Stimme immer noch, ob nicht irgendwer einen kleinen Regenwurm gesehen hätte. Alles umsonst. Der Bengel machte sich total lustig über die Regenwürmer, egal ob nackt oder nicht. Er schrie immer noch. Was tun? Also, eine neue Idee vom Genie: Taxi fahren. Xavier Richard hat mir erzählt, dass ihn in seinem jungen Alter, wenn er auch nicht einschlafen wollte, sein Vater in einen Korb gelegt und Schwups: auf die Rückbank vom Auto gepackt hatte. Nach zehn Kilometern schlummerte Xavier tief und fest.

"Hallo, ist dort der Taxistand?"
"Wo soll ich sie hinfahren?", fragte mich der Taxifahrer fünf Minuten später.
"Sie fahren eine kleine Runde ums Haus, bis der kleine Racker schläft.", sagte ich, während ich mich auf den Rücksitz setzte.
Ich glaubte, dass er antworten würde: "Was für eine Idee! Los, lasst uns schnell starten!"

Dem war leider nicht so. Auch er hatte ein Kind gehabt, was am Abend nicht einschlafen wollte. Und damals schien diese Idee, wohl auch nicht geklappt zu haben.
Jedenfalls riet mir auch der Fahrer, dass ich ihm ein Lied singen sollte.

"Wieder das vom kleinen Regenwurm?", fragte ich erschöpft.
"Oh nein. Ich würde das hier vorschlagen (Er begann zu singen):

« L’autre soir, pipon, pipon,
Boulevard Rouchehouart, pipon, pipon,
Deux mémères se battaient, pipon, pipon,
A grands coups de blai, pipon, pipon,
La police, pipon, pipon,
Toujours pleine de malice, pipon, pipon,
Fit coller des affiches, pipon, pipon,
Dis affiches qui disaient, pipon, pipon,
L’autre soir, pipon, pipon,
Boulevard Rouchehouart, pipon, pipon, ... »

("Anderer Abend, pipon, pipon,
Boulevard Rochehouart, pipon, pipon,
Zwei alte Frauen schlagen sich, pipon, pipon,
Mit einem großen Haufen Besen, pipon, pipon,
Die Polizei, pipon, pipon,
Immer voll von Bosheit, pipon, pipon,
Klebt viele Plakate an die Wände, pipon, pipon,
Plakate die sagen, pipon, pipon,
Anderer Abend, pipon, pipon,
Boulevard Rochehouart, pipon, pipon, …")

Wenn ich später einmal Kinder haben sollte, werde ich ihnen eines Tages das Schlaflied vom Taxifahrer vorsingen. Anthony schlief nämlich sehr schnell ein. Ich fragte mich, ob es nicht sinnvoll wäre, dem Fahrer zu sagen, dass er falsch singt, damit ich ihn nicht mehr hören musste.

"Dein kleiner Bruder ist niedlich.", schmeichelte er, während der Wagen vor der Tür von Madame Durieux anhielt.
"Das ist nicht mein Bruder.", antwortete ich Anthony anschauend.

Es ist wahr, er war sehr niedlich, so wie ich ihn an mich drückte.

Ich entschied mich für: "Das ist mein Cousin."

Madame Durieux schien nicht so richtig verstanden zu haben, warum ich sie nach sechzig Francs für das Babysitten und zwanzig Francs für das Taxi fragte. Aber sie bezahlte. Ich hatte ihr nämlich nicht erzählt, dass Anthony wach geworden ist. Sie hatte sich einen Film mit Allen Delon angeschaut und redete von nichts Anderem mehr.

"Er wahr schön, als er jung wahr.", sagte sie mir.

Aber ich finde, dass sein Sohn noch schöner ist.

"Anthony Delon?", fragte ich.
"Ja ich liebe ihn! Deswegen habe ich auch meinen Sohn Anthony genannt!"
"Und was hätten sie gemacht, wenn Alain Delon seinen Sohn Hippolyte genannt hätte?"

Sie schaute mich wieder mit ihren großen Augen an. Die Unterhaltung schien für sie zu intellektuell zu werden.

"Guten Abend, Madame Durieux!"
"Guten Abend, äh, Monsieur!"

Sie wusste anscheinend nicht mehr, ob ich vierzehn oder sechzehn Jahre alt war. Dieses Mal, fragte ich mich das allerdings auch.

- IV -

Der erste Mittwoch im Monat, der Tag von Martine-Marie. Mutter hat das Patenkind zum Essen eingeladen und sie brachte sie zum Reden. "Ja, Martine-Marie tanzt immer modern, nein, sie wird nicht zwei Jahre in derselben Klasse bleiben, ja, sie wird nach Deutschland eine Sprachreise machen." Das ist ja sehr interessant! Aber eigentlich habe ich sie eingeladen, um mich selbst mit ihr zu unterhalten.

"Hast du schon mal auf den kleinen Anthony Durieux aufgepasst?", fragte ich sie.

Martine-Marie schüttelte den Kopf.

"Weißt du, warum die Babys von dem einen auf den anderen Moment weinen?", lautete meine nächste Frage.
"Sie haben Bauchschmerzen.", warf Mutter ein.
"Oder es sind die Zähne?", schlug Martine-Marie vor.
"Ein Schrei kann auch bedeuten, dass sie Angst haben.", fügte Mutter hinzu.
"Sie haben auch Hunger."
"Oder Durst"
"Die Windeln sind voll."
"Ihnen ist kalt."
"Oder sie sind zu zugedeckt …"
"Sie haben Alpträume."

Ich war fassungslos.
Armer Anthony! Das Leben ist für ihn nur eine Serie von Katastrophen. Ich habe mich entschieden, mich um die Babyfrage zu kümmern. Ich bin sicher, dass ich etwas für sie machen kann.

Ich bin also in eine Bibliothek gegangen. Der Bibliothekar war in seinem Büro damit beschäftigt Karteikarten auszufüllen.

"Wo kann ich ein Buch über Babys finden?", frage ich ihn.
"Wie man Babys macht? Ist es das?", fragte mich der Bibliothekar die Stirn runzelnd.
"Nein.", sagte ich: "Ich suche ein Buch, wo steht, warum die Babys weinen …"
"Deine Mutter hat dich geschickt, richtig?", fragte er weiter die Stirn noch weiter gerunzelt.
"Nein, es war mein Bruder", antwortete ich: "mit seinem älterem Sohn Ludovic, das würde trotzdem passen. Aber in Wahrheit hat er ein Problem mit seinem kleinen Anthony.
"Ich kenne einen kleinen Anthony.", erklärte der Bibliothekar endlich lächelnd: "Ich sah ihn einmal im Supermarkt. Anthony Durieux?"
"Das ist er!", erwähnte ich beiläufig.
"Ah? Du bist der Bruder von Monsieur Durieux?"
"Äh, na klar, ja bin ich!", entschied ich mich.

Meine familiäre Situation wurde mehr und mehr immer schwieriger. Die Mutter von Martine-Marie war die Zwillingsschwester von meiner Mutter und der Vater von Ludovic und Anthony, meine Cousins, war niemand Anderes, als Monsieurs Durieux. Folglich war Monsieur Durieux der Bruder meiner Mutter und der Onkel von Martine-Marie.

"Schau im Psychologie-Teil unserer Bibliothek nach.", riet mir der Bibliothekar: "Du wirst sicher fündig."

Im Psychologie-Teil sah ich: "SOS - schlagende Kinder", "Diese schwierigen Jugendlichen", "Alles spielte sich vor sechs Monaten ab", "Lernen einem Baby vorzulesen", "Schulischer Misserfolg: Warum?". Nichts, was mich interessierte. Schließlich sah ich ein rosa Buch: "Sein Kind verstehen und lieben."

"Du hast dir dieses Buch genommen?", fragte mich der Bibliothekar.
"Es sieht doch gut aus."
"Wenn ich Madame Durieux im sehen werde, werde ich sie fragen, was ihr Mann davon denkt."

Ach du Lieber Himmel!

"Nein, es ist besser, wenn sie das lieber nicht erwähnen.", sagte ich schnell.
"Ach ja, wieso?"

Schnell, Schnell, oh Gott, eine Lüge, eine ganz kleine, die Letzte, ich verspreche es:

"Vorsicht! Mein Bruder leiht sich das Buch aus, um einer Schwester seiner Frau zu helfen, die nicht will, dass jeder weiß, dass sie mit ihrer Tochter, Anne-Laure, Probleme hat …"
"Ah, das ist ja drollig, ich kenne auch eine Anne-Laure.", unterbrach mich der Bibliothekar: "Anne-Laure Grumeau."

"Das ist sie!", erwähnte ich, noch beiläufiger, als beim ersten Mal.
"Das ist ja interessant, ich wusste nicht, dass Madame Grumeau die Schwester von Madame Durieux war ..."
"Die Welt ist klein.", sagte ich.

"Meine Familiengeschichten machen mich noch verrückt!", dachte ich, während ich zum Fahrradparkplatz rannte. Ich hätte mir "Diese schwierigen Jugendlichen" ausleihen sollen.
Was Anthony betrifft, ich habe seinen Fall durch das rosa Buch verstanden. Seine Mutter liebt ihn nicht.

"Glaubst du nicht, du übertreibst ein wenig?", fragte mich meine Mutter.
"Ich lüge nicht! Sie denkt an nichts Anderes außer Stars, Filme und Ausgehen."
"Sie liebt ihren Sohn, aber sie ist zu jung. Sie will sich amüsieren. Bei mir wahr es übrigens ähnlich: ich war auch zu jung, als du geboren wurdest. Sonst wäre ich doch nicht bei deinem Vater geblieben.
"Hör doch auf.", sagte ich.
Mein Vater, das ist Vergangenheit. Er verschwand, als ich auf die Welt kam.
Und danach?

- V -

Madame Aziz hatte meine Telefonnummer durch Madame Jaqueline Grumeau erhalten.

"Haben sie Erfahrung mit Kindern im Alter von fünf, sechs Jahren?", fragte sie mich am Telefon.
"Ah ja, ich kenne nichts anderes!"
"Und was ist sieben oder acht Jahren?"
"Diese würde ich eher bevorzugen."

Madame Aziz hielt einen Moment inne:

"Das ist weil, wissen sie, Martin, meine älterer Sohn, ist oft etwas schwerhörig. Man muss dann ein wenig lauter und eindringlicher zu ihm sprechen.
"Kein Problem.", sagte ich.
"Und Axel, mein zweiter, ist sehr wild und ausgelassen. Manchmal gibt’s, nun mal keine andere Lösung, als eine Tracht Prügel."

Am anderen Ende der Leitung begann ich so langsam die Nase voll zu haben. Aber ich dachte an meinen Videorekorder:

"Kein Problem.", sagte ich erneut.

Madame Aziz vergaß zu präzisieren, dass der mittlerweile zehnte Babysitter seit Anfang des Jahres war.
Von dem Moment an, wo ich Martin Aziz (sieben Jahre) das erste Mal sah, wusste ich, dass er nichts anderes sagen würde, als "Nein". Aber als ich Axel Aziz (fünf Jahre) sah, wusste ich, dass er den ganzen Abend "Du wirst mich nicht fangen, Äh, du wirst mich nicht fangen, äh …" summen würde. Das kann man in ihren Augen lesen.

"Also, seit schön artig, meine Lieben!", sagte Madame Aziz sie umarmend.

Monsieur Aziz wartete an der Tür, die Nase im Kino- und Theater Programmheft. Das lebendige Bild eines autoritären Vaters … das kann doch nicht funktionieren.
Von dem Moment an, als sich die Tür hinter den Eltern geschlossen hatte, begann ich mit dem "autoritären" Tonfall:

"Fein. Habt ihr euch schon die Zähne geputzt?"
"Nein.", antwortete mir Martin.
"Fein. Na dann mal los Zähne putzen!"
"Nein.", wiederholte Martin.

Ich drehte mich zu Axel um. Er verschwand im Flur summend:

"Du kriegst mich nicht, Äh, du kriegst mich nicht …"

Ich entschied ganz schnell meine Strategie zu ändern.

"Habt ihr schon von Ranflanflan-des-Epinettes gehört?"
"Wer ist nun dieser Verrückte bitteschön?", fragte mich Martin widerwillig.
"Das ist ein kleiner grüner Hase, der niemals das machen möchte, was man von ihm will!", sagte ich: "Seine Eltern haben davon die Nase voll gehabt und sind ohne ihn in den Club Méditerranée in den Urlaub geflogen.
Axel kam besorgt näher, den Daumen im Mund.

"Und weiter?", fragte mich Martin.
"Und weiter … was wird wohl aus Ranflanflan ohne seine Eltern werden?"

Axel nahm den Daumen aus dem Mund:

"Er wird mit einem Babysitter telefonieren.", sagte er erschüttert und er packte seinen Daumen zurück in den Mund.
"Genau, das ist es", sagte ich: "der Babysitter wird kommen. Und was wird Ranflanflan machen und was der Babysitter, um sich um ihn zu kümmern?
Ganz einfach, sie werden sich die Zähne putzen …"

"Nein", sagte Martin.
"Nein!", wiederholte ich: "Nein, sie haben eine bessere Idee. Sie werden schlafen gehen.
"Nein!", sagte Martin.
"Nein!", entgegnete ich, mehr und mehr verzweifelnd.
Axel nahm seinen Daumen aus dem Mund:

"Sie werden "Mensch ärgere Dich nicht" spielen.

Wir haben also die Kiste mit "Mensch ärgere Dich nicht" heraus genommen. Axel hatte unverschämt viel Glück. Er würfelte nur Fünfen und Sechsen. Seine Figuren galoppierten voran, während die von Martin noch am Anfang standen.

"Das ist nicht fair!", sagt Martin wütend.

Es kam eine Spielsituation, wo Axel sogar eine Figur von Martin rausschmeißen konnte. Das Drama geriet außer Kontrolle:

"Das ist widerlich! Du schummelst …"
"Nein Monsieur, ärgere dich nicht. Du bist einfach ein schlechter Spieler!"

Er warf den Würfel und sie zogen sich an den Haaren.

"Aufhören, Aufhören!", schrie ich, während ich versuchte, sie auseinander zu treiben, was, zu meinem Ärger, mit vielen Fußtritten belohnt wurde.
Schließlich kehrte wieder Ruhe ein, die nur von ein paar Schluchzern von Axel gestört wurde.

"Sich zu schlagen ist keine Lösung!", sagte ich: "Brüder dürfen sich niemals schlagen."
"Martin ist gemein!", erklärte Axel schluchzend.
"Und du, du bist eine verbrühte Wurst, ein echter Idiot!", entgegnete Martin.
"Ihr müsst an Ranflanflan denken", sagte ich
"Was ist denn jetzt mit diesem Verrückten schon wieder?", fragte mich Martin arrogant.
"Er hat keinen Bruder!", erklärte ich: "Und jetzt, wo sein Papa verreist ist, ist er ganz allein."

Die Beiden schauten mich an.

"Bist du traurig?", fragte mich Martin.
"Nein, ich bin nicht traurig. Aber es ist gut, wenn man einen Bruder hat."

Axel und Martin sind sich die Zähne putzen gegangen. Nachdem sie mich umarmt hatten haben sie sich dann ins Bett begeben. Die kleinen Aziz sind wirklich feine Bälger. Wenn ich von der Sorte später auch mal zwei hätte, wäre das echt toll. Ungefähr so habe ich das dann auch ihren Eltern erklärt. Ich glaubte, dass Monsieur Aziz mir vorschlagen würde, mich auch in Zukunft um sie zu kümmern. Aber nein. Er schaute nur lächelnd seine Frau an:

Das ist war, sie sind riesig, unsere Kleinen.", sagte er ihr.

Madame Aziz gab mir zehn Francs. Der Tag, wo Ranflanflan seinen Videorekorder bezahlen konnte, rückte näher.

- VI -

Durch erneutes lesen von "Seine Kinder verstehen und lieben", erkannte ich schließlich, warum Madame Durieux ihren Sohn doch liebt. An seinen Manieren.

"Das ist dort schlecht erklärt.", erklärte mir meine Mutter.
"Was willst du darüber wissen?", entgegnete meine Mutter dann.
"Sie spielt nicht mit ihm und das einzige, was sie ihm zu sagen hat, ist: "Nun geht das kleine Baby in die Heia!" Der Bengel ist bei ihr geistig unterfordert … Ich versteh nicht, warum du dabei lachst!"

Das ist gemein. Wenn ich ernsthaft rede, fangen Erwachsenen an zu lachen. Und wenn ich mal lache, heißt es natürlich: "Bleiben wir mal ernsthaft, ja!"

Ich hatte nun die Möglichkeit Anthony wieder zu sehen, weil seine Eltern wieder ausgehen wollten.

"Warum ist er immer so kurz geschoren ist?", fragte ich Madame Durieux.
"Das passt schon."
"Ist es normal, dass er sich nicht setzten will?"
"Das geht schon."
"Und was ist damit, dass er nie einen Ton von sich gibt?"
"Was willst du? Etwa das er spricht?"

Meine Fragerei machte Madame Durieux etwas perplex. Durch das mehrmalige Lesen meines Buches, habe ich erfahren, dass ein Kleinkind im Alter von Anthony z.B. "tatata" oder "bababa" von sich geben muss und auch versucht zu stehen. Anthony, das ist eben ein dickes Packet nasser Windeln und deshalb musste ich mich darum kümmern. Ich sagte mir:

"Und was ist, wenn er taub ist? Was ist, wenn er irgendwie behindert ist?"

Das drehte und drehte sich in meinem Kopf. Ich wagte es nicht, darüber mit Madame Durieux zu sprechen. Ich stellte lieber vorher ein paar praktische Nachforschungen an.

Als Madame Durieux mich gefolgt von ihrem Mann verließ, ging ich los um Anthony zu wecken. Nach drei Versuchen, hatte ich es nur durch schütteln geschafft und er schaute mich an.

"Hallo, mein Kleiner!"

Anthony lächelte mich an und war aufgeweckt wie ein Rennradfahrer. In Babysprache wollte er mit Sicherheit sagen, dass er glücklich war, mich zu sehen. Folglich bewies er, dass er intelligent war.
Zum Anfang machte ich viele Geräusche mit einer Trillerpfeife und so einem Ding, was "Muh" von sich gibt, während ich mich langsam von ihm weg bewegte. Anthony reagierte und versuchte herauszufinden, woher die Geräusche kamen. Also war er nicht taub.

"Weiter im Text mein Kleiner: nun ein wenig Sport!"

Ich nahm Anthony aus seinem Bett und platzierte ihn hinter einem Stuhl. Zuerst viel er zurück auf seinen Hintern, wie ein nasser Sack. Aber Stück für Stück versuchte er das Gleichgewicht zu halten, während er sich am Stuhl festklammerte. Er war also auch nicht behindert.

Ich berichtete Madame Durieux von meinen schwierigen Experimenten.

"Warum interessierst du dich eigentlich so sehr für Babys?", fragte sie mich dann.

Für das Prestige war eine kleine Lüge nötig gewesen. Aber wirklich die letzte.

"Kennen sie Doktor Grumeau?", sagte ich.
"Der Mann von Madame Grumeau?"
"Ja, er ist mein Onkel und von Beruf Kinderarzt. Ich interessierte mich schon immer sehr für Medizin und ich hoffe sein Nachfolger zu werden."
"Oh, ich verstehe!", antwortete Madame Durieux bewundernswert.

- VII -

Am Dienstag besuchte ich ein Geschäft mit Babyartikeln mitten im Einkaufszentrum. Ich hatte mich entschieden Anthony ein kleines Geschenk zu machen. Als ich mich im Laden umschaute, sah ich niemand Anderes als, Madame Aziz und wollte fast wieder rückwärts hinausgehen. Sie lächelte mich ein wenig verlegen an. Sie suchte ein großes Kleid, besonders um die Taille herum. Erbarmen! Nun kam auch noch ein dritter kleiner Aziz auf den armen Babysitter zu … Waren sie etwa mit den ersten Beiden etwa noch nicht glücklich genug?

"Und weswegen sind sie hier Monsieur?", fragte mich die Verkäuferin.
"Ich suche ein Plüschtier für meinen kleinen Cousin"
"Na dann werden sie mal fündig.", sagte sie mir.

Es gab dort ganze Affenbanden, blaue Elefanten, Katzen, die "Miau" machten, Giraffen, kleine Kängurus im Beutel der großen Mütter, ein Labrador in Lebensgröße und dazu noch ein Haufen Teddybären. Ich hatte die Qual der Wahl. Ich wollte alle.

"Und haben sie etwas gefunden?", fragte mich die Verkäuferin, während sie alle meine Taschen begutachtete (für den Fall, dass ich einen Elefanten stehlen könnte).
In diesem Moment stieg mein Herzschlag. Nicht wegen der Verkäuferin, wegen einem Hasen. Er war grün mit großen ein wenig herunter hängenden Ohren. MEIN Hase !

"Ich glaube, dass ich mich für einen Ranflanflan entscheiden werde.", sagte ich sehr natürlich.
"Ein Ran … Was?"

Tss! Man will hier nun mal Spielzeuge für die kleinen Kinder verkaufen und daher weiß hier keiner, dass ein Ranflanflan ein kleiner grüner Hase ist, der seine Eltern verloren hat.

Dienstagabend ging ich mit meinem Ranflanflan in das Zimmer von Anthony. Ich packte ihn auf seine Nase und mein kleiner grüner Hase begann zu sprechen.

"Hallo kleiner Kopf! Ich bin Ranflanflan-des-Epinettes.", sagte ich.

Ich hatte an alle möglichen Reaktionen gedacht, ein Schrei, ein Geheule, aber damit habe ich nicht gerechnet: Anthony fing an zu lachen, ein großes Lachen, ein Lachen zweimal so groß wie er. Er hatte noch nie in seinem Leben so richtig gelacht! Am selben Abend machte Anthony auch mir ein Geschenk.

"Das ist es!" sagte ich zu Madame Durieux, die vom Kino zurückkehrte: "Anthony spricht!"
"Was hat er gesagt?", schrie sie.

Sie hatte so ein Vertrauen in meine Fähigkeiten als Babysitter, dass sie ohne Zweifel annahm, dass Anthony ihr "Die Grille und die Ameise" aufsagt.

"Er sagte dadada und gueugueugueu", präzisierte ich: "Im Allgemeinen ist es das, was Kleinkinder im Alter von 7 Monaten sagen. Der Rest kommt von alleine."
"Wirklich? Da muss ich gleich mal meiner Mutter schreiben!", sagte mir Madame Durieux überglücklich.

Madame Durieux erzählte mir ein wenig aus ihrem Leben. Sie verließ ihre Mutter, ihre Brüder und ihre Freunde in Sarreguemines, weil ihr Mann auf dem Land keine Arbeit finden konnte. Sie haben sich dann in Montigny niedergelassen. Madame Durieux ist oft traurig und ihr Mann macht sich Sorgen, weil er nicht weiß, ob er seine Arbeit behalten wird. Und deswegen, um all das zu vergessen, geht sie so oft ins Kino …

- VIII -

"Ich weiß nicht, was Anthony heute hat.", sagte mir Madame Durieux am folgenden Dienstag: "Er will einfach nicht essen, was für eine Krise …"
"Das sind die Zähne.", sagte ich im Tonfall eines Professors.

Monsieur und Madame Durieux verließen mich sehr schnell. Ich ging in das Zimmer von Anthony. Er weinte.

"Hallo, mein Kleiner! Es ist Ranflanflan dein nichtsnutziger Babysitter!"

Anthony schaute mich ohne ein Lächeln an.

"Das ist aber nicht die feine Englische, mein Alter. Wo klemmt’s denn?"

Anthony fing wieder an zu weinen. Er war bleich, ganz bleich. Er hatte irgendetwas Seltsames in seinen Augen. Plötzlich zog sich sein Gesicht zusammen und er fing an zu schreien.

"Das sind Bauchkrämpfe.", murmelte ich: "Ich weiß, wie es dir geht, mein Kleiner, das wird schon."

Die Frage, ob man diesen Abend mit Ranflanflan hätte lachen können, stellte sich erst gar nicht. Ich ging in Richtung Küche. Wenn ich mir Sorgen mache, trifft es meist mich selber recht hart und dann muss ich immer was essen. Ich hörte und Anthony schrie immer noch. Mir schoss die Möglichkeit durch den Kopf, dass er vielleicht wirklich krank war.
Ich kehrte zu seinem Bett zurück. Er hatte starke schmerzen. Er sah mich an und in seinen Augen las ich "Hilfe" genauso klar, als wenn er mit mir gesprochen hätte. Ein großer Schauer lief mir über den Rücken. Der Tot.

"Hilfe!", schrie ich nun selber: "Nein keine Panik. Bleib cool. Was muss man tun? Denk nach …"

Also sagte ich:

"Madame Grumeau? Ja richtig, hier ist der Babysitter. Ich bin bei Madame Durieux. Ist ihr Mann da? Er schläft? Aber ich muss ihn sprechen. Es ist wegen Anthony. Er hat Bauchschmerzen."
"Wie alle Babys. Wegen so etwas werde ich doch nicht meinen Mann wecken. Wieg ihn in den Schlaf!"
"Aber …"

Sie hatte aufgelegt.
Ich rannte zurück zu dem Bett von Anthony. Er schrie ohne Aufzuhören. Nun bekam ich es langsam mit der Angst zu tun. Das Leben von Anthony lag in meinen Händen. Das wusste ich.
Ich ging in das Zimmer von Madame Durieux. Ihr Buch über die Krankheiten von Kindern lag nahe dem Bett. Ich suchte unter "Schreie" im medizinischen Lexikon. Die Wörter begannen in meinen Augen zu tanzen: "Scharfe Schreie, … das soll sie warnen, … nicht Essen, Brüllen, … Blutverlust, Chirurgischer Notfall!" Das Buch war klar, es kam keine andere Diagnose in Frage.
Ich nahm den Hörer ab:

"Madame Grumeau? Ja, ich bin es noch mal. Wenn sie mir jetzt nicht sofort ihren Mann geben, haben sie einen Mord auf dem Gewissen!"

Die Heftigkeit meiner Worte brachte sie dann doch zum umdenken:

"Hallo, Doktor Grumeau? Es ist wegen dem kleinen Anthony. Er hat eine "akute Darmverschlingung"."

Es gab einen kurzen Moment Stille.

"Ich komme."

Ich musste fünf Minuten warten, fünf horrorvolle Minuten.

"Ist ja gut, mein Kleiner! Ist ja gut! Der Doktor kommt. Ich bleib bei dir, siehst du?"

Schließlich klingelte es.

"Da ist er! Schnell"

In drei Handgriffen hatte der Doktor Anthony entkleidet.

"Er verliert Blut, ruf einen Krankenwagen. Wir müssen ihn fortbringen."

Ich kannte alle Nummern von Madame Grumeau auswendig. Ich rief einen Krankenwagen. Aber wir mussten weitere fünf Minuten warten. Anthony schrie aus Leibeskräften. Endlich kam der Krankenwagen. "Hier lang, schnell! Wir haben nicht mehr viel Zeit."
Sie fuhren los. "Tik Tak, Tik Tak, Tik Tak". Stille. Plötzlich klingelte es. Die Durieuxs. Ich hatte sie ganz vergessen.

"Sie sahen wirklich sexy aus, Marilyn.", begann Madame Durieux vergnügt.
"Ich bitte sie.", sagte ich: "Ich bitte sie."

Ich wusste nicht wirklich wie, aber in nur einer Sekunde hatte Madame Durieux alles verstanden.

"Anthony!"

Sie rannte so schnell sie konnte ins Zimmer von Anthony.
Wir fuhren zu dritt ins Krankenhaus. Niemand sagte etwas. Am Ende der Wegstrecke war Anthony. Tot oder Lebendig.

"Sind sie die Eltern des Kleinen? Setzen sie sich.", sagte die Krankenschwester: "Der Doktor wird kommen. Man musste Operieren. Alles wird gut."

Sie war ein Engel, diese Krankenschwester. Sie erinnerte an Martine-Marie. Doktor Grumeau kam mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Er nahm meine Hand und sagte:

"Ich weiß nicht, ob es dir schon bewusst geworden ist, aber was dir heute passiert ist, das geschieht im Leben nicht so schnell ein zweites Mal: du hast jemanden das Leben gerettet."
"Es war mir schon bewusst", sagte ich mit zitternder Stimme: "weil ich Mediziner werden will."

Meine Mutter war sehr überrascht, als ich ihr dass erzählte, weil ich gestern gerade noch davon sprach, ein großer Reporter zu werden.

"Glücklicherweise war ihr Neffe ja da.", sagte Madame Durieux zum Doktor.
"Mein Neffe?", fragte Monsieur Grumeau erstaunt: "Sie sprechen doch jetzt vom Bruder ihres Mannes?"

Ach du lieber Himmel!

"Mein Mann hat keinen Bruder, Herr Doktor!"

Ich war schon verschwunden.

- IX -

Ich machte hundert Schritte im Einkaufszentrum. Es war der erste Mittwoch im Monat und ich wartete auf Martine-Marie, das Patenkind meiner Mutter. Während ich mir die ganzen Schaufenster und Vitrinen anschaute sagte ich mir:

"Alles wird gut."

In jenem Moment war alles gut. Mein Abenteuer mit Anthony hatte sich schon in ganz Montigny herumgesprochen. Ich war der einzige Babysitter, dem man sein Können glauben konnte. Xavier Richard hatte mir den Beinamen "Rambo der Schreihälse" gegeben. In jenem Monat Juni hatte ich schon 1820 Francs verdient. Nur noch ein wenig Anstrengung und ich habe den Videorecorder in der Tasche.
Während ich immer noch auf Martine-Marie wartete schaute ich mir die Schaufenster im Überdachten Einkaufszentrum an. Ich dachte an ein Paar "Nike Air", die ich unbedingt haben musste. Aber ein wenig weiter, sah ich eine Kappe mit eingebauten Kopfhörern: ein Artikel größter Notwendigkeit. Xavier Richard hatte auch schon eine.

"Na du?", sprach mich Martine-Marie an: "Hast du schon die neuen Walkmans gesehen?"
"Nein, ich wartete auf dich. Wie viel Geld hast du?"
"130."

Mit so wenig Geld lässt sich aber nichts Interessantes finden. Wir traten in einen Laden ein.

"Ich liebe es, das Geld auszugeben, dass ich mir über den Monat verdient habe.", sagte mir Martine-Marie: "Und du? Hörst du mit dem Babysitten auf, wenn du deinen Videorecorder hast?"
"Ich … Ich weiß es nicht."

So schnell werde ich ihr nicht erzählen, dass ich gerne auf die Kleinen aufpasse. ____
"Vielleicht spare ich mir dann einen CD-Player zusammen.", sagte ich.
"Da kannst du aber wieder so einige Stunden Babysitten!", sagte Martine Marie.
"Oh ja!", seufzte ich.

Ich würde das dennoch gerne Jemandem erklären. Durch das Babysitten wurde ich Teil einer Art großen Famille. Ich hatte zwei Schwestern: Anne-Laure und Anne-Sophie, zwei Brüder: Axel und Martin und ich wartete auf den letzten Aziz. Madame Durieux oder der Doktor Grumeau, das zählte natürlich auch. Bei ihnen, das war bei mir.
Aber über allem war da noch Anthony. Seit ich ihm das Leben gerettet habe, war er für mich ein kleiner Bruder.

"Du wirst das jetzt lustig finden", sagte Martine-Marie: "aber ich mag Babysitten sehr."
"Ach wirklich?", fragte ich mit geheucheltem Staunen.
"Ja, ich liebe es mich um kleine Babys zu kümmern. Eines Tages führte ich die kleine Melodie im Kinderwagen spazieren und sah Sylvie Richard."
"Die Schwester von Xavier?"
"Ja … Ich ließ sie glauben, dass Melodie meine kleine Schwester war. Das ist Blödsinnig, oder?"
"Äh … Guck mal, die vielen Walkmans!"

Aber es war leider unmöglich Martine-Marie zum Schweigen zu bringen, wenn sie erstmal angefangen hatte zu erzählen.

"Ich werde später eine große Familie haben."
"Ich auch!" sagte ich unvorsichtig.
"Ach wirklich? Wie viele Kinder möchtest du haben?"
"Äh … vier."
"Das ist ja Klasse … Ich auch, ich möchte auch vier haben!"

Ich schaute mir Martine-Marie an. Und dann wusste ich, dass auch die Engel rot werden können, genau wie jeder Andere.

Wir kauften uns einen Walkman schlechter Qualität: "Made in Hong-Kong " und verließen den Laden wieder.

"Ich möchte dir eine Frage stellen Martine-Marie."
"Ja?"
"Bin ich WIRKLICH hässlich?"
"Ich FINDE dich nicht hässlich.

Wirklich, alles wurde gut.

- X -

Diesen Dienstag ging ich wie gewöhnlich zu Madame Durieux. Ich dachte an verrückte Dinge, wie z.B. einen Arzt, der einen Engel heiratete und vier Kinder hatte, alle mit kurz geschorenen Haaren, wie Anthony. Kurz gesagt, ich dachte an mich und den Weg vor mir: die ZUKUNFT.
Als ich bei Madame Durieux ankam, fand ich sie im Wohnzimmer.

"Wir gehen heute nicht aus.", sagte sie mir.
"Ist Anthony krank?"
"Nein, ihm geht’s gut."

Das war wahr, denn ich hörte, wie er "dadada" sagte, und wie er Fußtritte gegen sein Bett machte. Ich setzte mich langsam. Es war vorbei. Es ging nicht mehr weiter. Ich wusste es, über längere Zeit läuft das Leben niemals gleich bleibend rund.

"Wir werden wegziehen.", sagte mir Madame Durieux.
"Ihr werdet davonziehen?", wiederholte ich, ohne es zu verstehen.
"Ich möchte davon eigentlich nicht sprechen, bevor ich mir nicht wirklich sicher bin. Mein Mann hat seine Arbeit verloren und nun gefällt es ihm hier nicht mehr.
"Ihr werdet hier wegziehen?", wiederholte ich erneut, ohne es verstehen zu wollen.
"Ich weiß, dass dich das traurig macht. Wegen Anthony, richtig?", fügte sie sanft hinzu: "Und das macht mich auch traurig."

Sie holte ein Taschentuch heraus. Na gut. Wir werden mal nicht weinen.

"Und wann werdet ihr fahren?", fragte ich mit zugeschnürter Kehle.
"Samstag."
"Und wohin?"

Auf einmal erschien ein großes Lächeln auf dem sonst traurigen Gesicht von Madame Durieux.

"Nach Sarreguemines. Nahe meiner Mutter."

Ich denke, dass ich euch noch etwas erklären muss: MADAME Durieux war erst achtzehn Jahre alt.
"Möchtest du Anthony "Leb wohl!" sagen?", schlug sie mir vor.

Ich nickte mit dem Kopf und stand auf. Sie wollte mich begleiten.

"Nein danke, das mache ich allein."

Ich ging in das Zimmer von Anthony. Er wartete auf mich hinter der geschlossenen Tür. Als ich eintrat und zu ihm sprach streckte er die Arme aus und nannte mich: "min, min, min". Da verließ mich dann der Mut. Ich wartete an der Tür und flüsterte:

"Auf Wiedersehen Anthony!"

- XI -

Ich fuhr mit dem Fahrrad nach hause. Dieser Planet ist manchmal ganz schön komisch. "Du bist ein Idiot!", sagte ich mir immer wieder, wie ein verrückter, während ich in die Pedale trat: "Du bist ja so ein Idiot!".
Diesen Abend hatte ich es verstanden, diesen Abend hatte ich es endlich verstanden. Ich wurde für nicht in die Familien eingeladen. Ich war bedeutungslos, für Madame Grumeau, genauso wie auch für Doktor Grumeau. Ich war der Baby-Sitter, mehr nicht. Aber für wen zählte ich wirklich etwas?

"Schon zurück?", fragte mich Mutter erstaunt.
"Ja, Ja.", sagte ich.
"Das passt gut, ich habe eine Überraschung für dich."

Sie verschwand in ihrem Zimmer und kam mit einem großen Paket zurück. Ich wusste, was es war, weil ich ja fast Zweitausend Francs verdient hatte. Gestern noch wäre ich in einen Freudentanz ausgebrochen.

"Willst du es denn nicht öffnen?", fragte Mutter besorgt.
"Doch, doch, …"

Es war natürlich der Videorekorder. Der Gleiche, den auch Richard hatte.

"Ist es nicht die richtige Marke?", unterbrach mich Mutter.
"Doch, doch, …"
"Gefällt er dir nicht?"

Es lag etwas Cholerisches in ihrer Stimme.

"Doch … Aber es ist nicht das, was ich will."

Meine Mutter explodierte:

"Willst du mich verschaukeln, oder was? Du glaubst doch nicht etwa, dass es einfach für mich ist, fünftausendfünfhundert Francs zusammen zu kratzen. Was gefällt dir denn, ein Moped, eine Kamera, ein …"

"Ein Bruder.", sagte ich.

Das schlug ein, wie eine Bombe. Ich hatte genau das gesagt, was ich wirklich wollte und das ließ sich nicht in den Katalogen finden. Ich schaute Mutter an. Mein Bruder. Ich hatte nie einen, und ich werde nie einen haben.

"Ein Bruder?", flüsterte Mutter.

Ja einen Bruder, egal ob groß oder klein. Ein Bruder, zu dem ich sagen könnte: "Ich bin verliebt in Martine-Marie." Einen Bruder, der sich diesen Abend über mich lustig gemacht hätte, um zu verhindern, dass ich weine, weil ich MAG ES NICHT zu weinen.

"Fühlst du dich einsam?", fragte Mutter: "Ist es das?"

Ich nickte mit dem Kopf.

"Voll ins Schwarze getroffen."
"Natürlich.", sagte sie: "Und wenn … wenn ich mit deinem Vater zusammen geblieben wäre …"

Ich legte meine Hand auf ihre Schulter.

"Lass es. Das ist Vergangenheit."

Und schließlich lachte ich:

"Ich werde eine große Familie haben. Mach dir da mal keine Sorgen. Ich habe Pläne, für mein Leben!"

Ich schickte eine Postkarte nach Sarreguemines:

Anthony, mein Kleiner. Nimm deinen Mut in beide Hände! Es ist wahr, das Leben ist hart. Aber wenn Jemand dich liebt und du Jemanden liebst, dann, … dann ist das Leben schön.

Dein nichtsnutziger Babysitter, Emilien
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