Analyse, Rhetorische und inhaltliche Erörterung: Richard von Weizsäckers Rede zur Menschenwürde
Richard von Weizsäcker –
Am 8. November 1992 hielt der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Rahmen einer Großdemonstration eine Rede unter dem Motto „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Anlass für die Demonstration waren die zunehmenden Gewalttaten gegen Ausländer in Deutschland. Neben dem Großteil von friedlichen Demonstranten war auch eine kleine Gruppe Gegen-Demonstranten, die den Bundespräsidenten während seiner Rede auspfiffen und mit Gegenständen bewarfen.
Der erste Sinnabschnitt ist Weizsäckers Einleitung (Z.1-26). Mit der Frage nach dem Versammlungsgrund regt er die Zuhörer zum Denken an, bezieht sie in seine Rede mit ein. Dieses Zugehörigkeitsgefühl unterstützt er weiterhin, indem er von einem „Wir“ spricht. (Z. 1) Schließlich beantwortet er die Frage: Es ist die Sorge um Deutschland, die sie zusammengebracht hat. Die Sorge wegen des Rechtsextremismus und der Gewalt. (Z. 2/3) Mit einer Akkumulation bringt er die große und auch schreckliche Tragweite der neuesten Geschehnisse zum Ausdruck. (Z. 7-16) Mit rhetorischen Fragen stellt er seine Schreckensvisionen für die Zukunft vor, in der, wenn sich nichts ändert, Gewalt als normal angesehen wird. (Z. 17-21) Indem er diese Fragen beantwortet, gibt er die einzig mögliche Lösung: „Jeder und jede von uns – (muss) für die Demokratie eintreten.“ (Z.24-26)
Mit dem dritten Abschnitt (Z.38-54) bringt er erstmals in seiner Rede Auslandsbeziehungen zur Sprache. Das Vertrauen, das das Ausland Deutschland entgegenbrachte und noch entgegenbringt, darf nicht missbraucht werden. Denn „Unsere demokratische Verantwortungsgemeinschaft, unser Anstand stehen auf dem Spiel.“(Z. 43-45), sagte der damalige Bundespräsident. Wieder verwendet er eine Akkumulation, um das Ausmaß und die Vielfalt der von der Verantwortung betroffenen Menschen auszudrücken.
Im vierten Sinnabschnitt (Z.55-99) spricht Weizsäcker von der Verbundenheit aller Menschen; auch wenn natürlich keine Gleichheit herrscht, so sollte doch Gerechtigkeit herrschen. Unterstützt durch die Synonyme „verbindet; zusammenhält“ (Z. 60/61) stellt er heraus, dass wir durch die „Absage an die Gewalt“ vereint sind oder zumindest sein sollen. Durch die parallel angeschlossene Antithese drückt er klar aus, dass eine Absage an die Gewalt auch eine Zusage an die Würde des Menschen bedeutet. Weizsäcker personalisiert im Folgenden die Humanität, die er als ewiges Opfer der Gewalt darstellt. Die Lösung: Die Würde, die jedem einzelnen uneingeschränkt zusteht. Um diese „grenzüberschreitende“ Gültigkeit herauszustellen, sagt Weizsäcker, dass es egal sei, ob man diesen Grundsatz mit Vernunft oder christlicher Nächstenliebe erklärt, das Ergebnis sei so oder so: „Die Würde ist der unaufgebbare sittliche Kern einer jeden Person. Sie ist das Fundament aller Grundrechte“ (Z. 86-88). Das heißt, dass in jedem diese Würde steckt und dass ohne sie die Menschenrechte nicht existieren können. Weiterhin sagt er, dass dieser innere Kern eine Verpflichtung darstellen muss, damit eine Gesellschaft in Frieden miteinander leben kann. Eine Bedingung für die Existenz der allgemeinen Würde muss sein, dass die anderer fest mit der eigenen verknüpft ist. Man selbst kann also keine Würde haben, solange man die der Mitmenschen nicht respektiert.
Der folgende Sinnabschnitt (Z.128-153) beschäftigt sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands. Es ist der 8. November. Am 9. November 54 Jahre zuvor fand die so genannte Reichskristallnacht statt. Weizsäcker erwähnt die Wandlung der Bedeutung dieses Datums, da der 9. November seit 1989 als Tag der Freiheit gilt. Dies trug auch dazu bei, dass die übrigen Länder Deutschland Achtung entgegenbringen. Weizsäcker beteuert weiterhin, dass Deutschland Fremde soweit möglich gastfreundlich aufnehmen wird.
Im hierauf folgenden Sinnabschnitt (Z. 154-205) spricht der Bundespräsident seinen Dank aus, stellvertretend für das gesamte Deutsche Volk. Dank den französischen, britischen und amerikanischen Freunden und der Solidarität des Auslands. So gewinnt er nicht nur Sympathien und zeigt, dass er selbst Anstand besitzt, sondern zeigt auch, dass die Achtung vor anderen bereits positive Ergebnisse hervorgebracht hat. Nach dieser Ermutigung kommt Weizsäcker auf die noch bestehenden Herausforderungen zu sprechen: die Zuwanderung aus den Armutsländern, dem Asyl und der Gewalt. Die logisch daraus resultierenden Pflichten seien der humane Umgang mit den Zuwanderern, die Schaffung eines neuen Systems, welches das Asyl ergänzt, und die konsequente Durchführung der Rechtsordnung gegen Gewalttäter. Mit dem Neologismus „Asylnadelöhr“ (Z.189) verdeutlicht Weizsäcker, wie unausgeprägt das bestehende System ist.
Im achten Sinnabschnitt (Z.206-229)) merkt der Bundespräsident an, dass nicht nur die Rechtsordnung und die Politik arbeiten müssen, auch das Gewissen muss geschärft werden; und das kann jeder machen. Auch Medien sollten ihren Beitrag leisten, gerade sie, da sie keiner höheren Gewalt untergeordnet sind. „Selbstbeherrschung nennt man das. Möge sie geübt werden.“, fordert Weizsäcker.
Der neunte Abschnitt der Rede (Z.230-238) befasst sich mit der Logik der Würde. Der Bundespräsident bemängelt die rechtsradikalen Parolen. Die Aussage „Die Würde des Deutschen ist unantastbar.“, ist widersprüchlich, betrachtet man die Bedingung zur Existenz der Würde: „Ich kann die Würde meines Nachbarn von meiner eigenen gar nicht trennen.“ (Z. 93/94). Wenn es Würde nur für die Deutschen geben soll, es also keine Würde für nicht deutsche Menschen gibt, so kann die Würde auch den Deutschen nicht zustehen. Mit diesem Abschnitt spricht Weizsäcker mit Kants Zunge. Er spricht für Logiker, Mathematiker. Während er zuvor an das Gewissen, an Gutglauben, vielleicht auch Naivität und Anstand appelliert hat, wendet er sich nun auch an das restliche Publikum, an die so genannten Kopfmenschen, die nach dieser Beweisführung zugeben müssen, dass Weizsäcker recht hat, dass die Würde notwendig ist.
Weizsäcker schließt mit dem Ruf Deutschlands und dem Sinn der Demonstration. „Deutschland ist weder Schlagwort noch Schlagstock, sondern unser Land, das uns am Herzen liegt.“ (Z. 241-243), so der Bundespräsident. Dies soll ausdrücken, dass Deutschland nicht länger mit Gewalt und Fremdenhass assoziiert werden soll, sondern mit gesunder Vaterlandsliebe. Deutschland soll ein Land ohne Grenzen bleiben. Nach den DDR-Zeiten soll Deutschland EINE Verantwortungsgemeinschaft sein. Diese Demonstration soll sie alle aufrütteln, auffordern, für die Würde einzustehen, sich der „Verantwortung als freie Bürger“ (Z.265) bewusst zu werden und sie zu erfüllen. Wie auch schon zu Anfang stellt er hier eine rhetorische Frage, auf die er seine einzige Antwort selbst gibt. Wozu all die Mühe, friedlich zu demonstrieren, zu beglaubigen, Demokrat zu sein? Um andere mitzuziehen, um ihren Standpunkt zu verdeutlichen, um die Gewalt zu beseitigen. Diese letzte Wiederaufnahme der in der Rede genannten Punkte soll alle daran erinnern, wofür sie einstehen, welches Ziel sie verfolgen und dass sie bereits auf einem guten Weg sind, dass nichts umsonst war.
Inhalt
Detail-Analyse von Richard von Weizsäckers Rede zur Unantastbarkeit der Menschenwürde anlässlich der Gewalttaten in Deutschland, die er am 8. November 1992 im Rahmen einer Großdemonstration hielt.
Rhetorische und inhaltliche Erörterung. (1175 Wörter)
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